Der Krieg am Ende der Welt
Zelt. Es ist Nacht geworden, ein großer gelber Mond scheint auf das Lager. Während er auf die Baracke zugeht, die er mit dem alten, verfrorenen Journalisten teilt, kündigt der Trompeter die Essensausgabe an. Das Signal wiederholt sich in der Ferne.Feuer brennen da und dort, Gruppen von Soldaten sind unterwegs zu den schmalen Rationen. In der Baracke trifft er seinen Kollegen, der wie immer einen Schal um den Hals gewickelt hat. Während sie um Essen anstehen, erzählt ihm der Journalist vom Jornal de Notícias , was er im Zelt gehört hat.
»Was hat Sie denn so tief beeindruckt«, fragt ihn der Kollege.
»Sie begreifen nicht, was in Canudos passiert«, antwortet er. »Es ist komplizierter, es ist viel verworrener, als ich dachte.«
»Schön, an das mit den Abgesandten Ihrer Britischen Majestät im Sertão habe ich auch nie geglaubt, wenn Sie das meinen«, brummt der alte Journalist. »Aber das Märchen des kleinen Pfarrers, daß hinter all dem die Liebe zu Gott steht, glaube ich auch nicht. Zu viele Gewehre, zuviel Verwüstung, eine zu gute Taktik, als daß alles das Werk analphabetischer Sebastianiten sein könnte.«
Der kurzsichtige Journalist sagt nichts. Sie kehren in ihre Baracke zurück, der Alte legt sich sofort hin und schläft ein. Doch der kurzsichtige Journalist bleibt wach, das Brett auf den Knien, schreibt er im Schein einer Kerze. Als er den Zapfenstreich hört, wirft er sich auf seine Decke. Er stellt sich die Soldaten vor, die angezogen neben den zu je vier aufgestellten Gewehren im Freien schlafen, und an die Pferde in ihrem Pferch neben den Artilleriegeschützen. Lange liegt er wach in Gedanken an die Posten, die den Lagerbezirk abschreiten und sich die ganze Nacht über mit Pfeifsignalen verständigen werden. Aber gleichzeitig, unterschwellig, bohrend und verwirrend, beschäftigt ihn etwas anderes: der gefangene Pfarrer, sein Gestammel, seine Worte. Haben sein Kollege und der Oberst recht? Kann man Canudos mit den üblichen Begriffen wie Verschwörung, Rebellion, Umsturz, Politiker-Intrigen mit dem Ziel einer Wiederherstellung der Monarchie erklären? Vorhin, als er dem verängstigten Pfarrer zuhörte, hatte er die Gewißheit, daß es nicht möglich ist. Es handelt sich um etwas Diffuseres, weniger Aktuelles, weniger Gewohntes, etwas, das seine Skepsis ihm verbietet, göttlich oder teuflisch oder einfach geistlich zu nennen. Was dann? Er streckt die Zunge in seine leere Feldflasche, und kurz darauf schläft er ein.
Als der erste Lichtschimmer am Horizont erscheint, sind an einem Ende des Lagers Schellengebimmel und Blöken zu hören.Die Sprossen eines kleinen Gebüschs beginnen sich zu bewegen. In der Abteilung, die diese Flanke des Regiments deckt, fahren Köpfe hoch. Der Posten, der sich eben entfernte, geht leise zurück. Wer aufgewacht ist von dem Geräusch, reibt sich die Augen, legt die Hand ans Ohr. Ja, Blöken, Schellenläuten. In den schläfrigen, durstigen, hungrigen Gesichtern liegt Erwartung, Freude. Sie geben sich Zeichen, leise zu sein. In aller Stille stehen sie auf und laufen zu den Büschen. Dort ist noch immer das Blöken, das Gebimmel. Die ersten, die an das Gebüsch kommen, erkennen, weiß im bläulichen Schatten, die Schafe: tschok, tschok ... Sie haben eines der Tiere gegriffen, als die ersten Schüsse fallen und die Schmerzensschreie der von Kugeln oder Pfeilen Getroffenen zu hören sind.
Am anderen Ende des Lagers erschallt das Wecksignal, das der Kolonne den Aufbruch ankündigt.
Die Bilanz des Hinterhalts ist nicht allzu schlimm: zwei Tote, drei Verwundete, und die Patrouillen, die auf der Suche nach den Jagunços ausschwärmen, ohne sie einzufangen, bringen ein Dutzend Schafe mit, die die Kost aufbessern werden. Doch sei es wegen der wachsenden Schwierigkeiten, Essen und Wasser zu beschaffen, sei es wegen der Nähe von Canudos: die Reaktion der Truppe auf diesen Hinterhalt offenbart eine bis dahin nicht gekannte Nervosität. Die Soldaten der Kompanie, zu der die Opfer gehören, verlangen von Moreira César die Exekution des Gefangenen als Vergeltung. Der Journalist stellt eine Veränderung an den Soldaten fest, die sich um das weiße Pferd des Oberst drängen: verzerrte Gesichter, Haß in den Pupillen. Der Oberst hört sie an, pflichtet bei, während alle durcheinanderreden. Zuletzt erklärt er ihnen, daß dieser Gefangene kein gewöhnlicher Jagunço ist, sondern jemand, dessen Kenntnis dem Regiment in Canudos zugute kommen wird.
»Ihr werdet eure Rache
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