Der Krieg am Ende der Welt
bekommen«, sagt er. »Es dauert nicht mehr lange. Erhaltet euch diese Wut, vergeudet sie nicht.«
Schon am Mittag haben die Soldaten die Rache, nach der sie lechzen. Das Regiment zieht an einem Bergvorsprung vorbei, auf dem – ein häufiger Anblick – Haut und Kopf einer Kuh liegen, aus der die Geier alles Eßbare herausgehackt haben. In einer plötzlichen Anwandlung murmelt ein Soldat, diese tote Kuh könnte der Schlupfwinkel eines Spähers sein. Kaum hat er, es gesagt, verlassen mehrere Soldaten die Reihen, rennen und sehen, brüllend vor Begeisterung, aus dem Loch unter der Kuh einen bis aufs Skelett abgemagerten Jagunço auftauchen. Sie fallen über ihn her, stoßen ihre Messer, ihre Bajonette in ihn hinein. Sie schlagen ihm den Kopf ab und zeigen ihn Moreira César. Mit einer Kanone würden sie ihn nach Canudos schießen, sagen sie, damit die Rebellen wüßten, was sie erwartet. Der Oberst bemerkt zu dem kurzsichtigen Journalisten, die Truppe befinde sich in ausgezeichneter Form für den Kampf.
Obwohl er die ganze Nacht unterwegs war, spürte Galileo Gall keine Müdigkeit. Die Reittiere waren alt und mager, zeigten aber bis in den frühen Morgen hinein keine Anzeichen von Erschöpfung. Die Verständigung mit Ulpino, dem Führer, einem Mann mit markanten Gesichtszügen und kupferfarbener Haut, der Tabak kaute, war schwierig. Bis zur Essenspause am Mittag wechselten sie kein Wort. Wie lange würden sie nach Canudos brauchen? Der Führer spuckte den Tabakpfropfen aus, den er im Mund hatte, doch seine Antwort war unpräzis. Wenn die Pferde mitmachten, zwei oder drei Tage. Aber das galt in normalen Zeiten, nicht in diesen ... Jetzt würden sie nicht mehr geradeaus, sondern im Zickzack reiten, um den Soldaten und den Jagunços auszuweichen, denn die einen wie die anderen würden ihnen die Tiere wegnehmen. Gall spürte auf einmal eine große Müdigkeit und schlief fast auf der Stelle ein.
Ein paar Stunden später nahmen sie die Reise wieder auf. Kaum waren sie losgeritten, fanden sie ein winziges Rinnsal mit trinkbarem Wasser. Während sie zwischen kahlen, steinigen Hügeln, auf einer von Disteln und Kakteen gekrausten Ebene weiterritten, schlug Galls Ungeduld in Angst um. Er dachte an jenen frühen Morgen in Queimadas, an dem er hätte sterben können und an dem sein Geschlecht wieder zum Leben erwacht war. Er fand sich in seinem Gedächtnis nicht mehr zurecht. Erstaunt entdeckte er, daß er das Datum nicht mehr wußte, weder Tag noch Monat. Das Jahr war wohl noch immer 1897. Es war, als sei in dieser Gegend, durch die er unablässig zog,von einer Seite auf die andere verschlagen, die Zeit getilgt worden oder als sei es eine andere Zeit mit einem anderen Rhythmus. Er versuchte sich zu erinnern, was die Köpfe, die er hier abgetastet hatte, über den Zeitsinn aussagten. Gab es ein besonderes Organ für das Verhältnis des Menschen zur Zeit? Ja, selbstverständlich. War es ein winziges Knöchelchen oder ein kaum wahrnehmbares Absinken der Temperatur? Er erinnerte sich nicht an die Stelle. An die Fähigkeiten oder Unfähigkeiten, die sie anzeigte, erinnerte er sich genau: Pünktlichkeit oder Unpünktlichkeit, Umsicht oder ständiges Improvisieren, die Fähigkeit, das Leben methodisch anzugehen oder eine von Unordnung untergrabene, von Wirrwarr aufgezehrte Existenz zu führen ... Wie meine eigene, dachte er. Ja, er war der typische Fall einer Persönlichkeit, der chronische Turbulenz zum Schicksal wird, ein Leben, das sich nach allen Seiten in Chaos auflöst ... Er hatte es in Calumbí festgestellt, als er fieberhaft versucht hatte, seine Überzeugungen und die wichtigsten Daten seiner Biographie zusammenzufassen. Er hatte das entmutigende Gefühl gehabt, daß es unmöglich war, diesen Wirrwarr von Reisen, Landschaften, Menschen, Überzeugungen und Gefahren, diese Hochgefühle und Fehlschläge zu ordnen und einen Wertmaßstab an sie anzulegen. Und wahrscheinlich erschien nun in den Papieren, die er dem Baron gelassen hatte, nicht deutlich genug, was in seinem Leben tatsächlich konstant war, das nie Verratene, das, was einen Anschein von Ordnung in die Unordnung bringen konnte: seine revolutionäre Leidenschaft, sein Haß auf das Unglück und die Ungerechtigkeit, die so viele Menschen ertragen mußten, sein Wille, irgendwie dazu beizutragen, daß sich das änderte. »Nichts von dem, was Sie glauben, stimmt, und Ihre Ideale haben nichts zu tun mit dem, was in Canudos geschieht.« Der Satz des Barons lag ihm noch im
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