Der Krieg am Ende der Welt
Was Ulpino über Canudos denke? Der kaute eine Weile, ohne zu antworten. Dann sagte er in ruhigem Fatalismus, als ob ihn das nichts anginge: »Sie werden allen den Hals abschneiden.« Gall dachte, daß sie sich nichts weiter zu sagen hatten.
Als sie aus der Caatinga herauskamen, gelangten sie auf ein Hochplateau, das mit Xique-Xique-Sträuchern bestanden war. Ulpino schnitt sie mit der Machete an: innen war ein süßsaures Fruchtfleisch, das den Durst stillte. An diesem Tag begegneten sie wieder Pilgern, die nach Canudos gingen. Diese Leute, in deren müden Augen er eine heimliche Begeisterung erkennen konnte, die stärker war als ihr Elend, taten Gall gut. Sie gaben ihm den Optimismus zurück, die Euphorie. Sie hatten ihreHäuser verlassen, um sich an einen vom Krieg bedrohten Ort zu begeben. Bedeutete das nicht, daß der Instinkt des Volks untrüglich war? Sie gingen dorthin, weil sie intuitiv begriffen, daß Canudos ihren Hunger nach Gerechtigkeit und Selbständigkeit verkörperte. Er fragte Ulpino, wann sie ankommen würden. Bei Anbruch der Nacht, wenn nichts dazwischenkam. Was sollte dazwischenkommen? Sie hatten doch nichts mehr, was man ihnen stehlen konnte. »Sie können uns töten«, sagte Ulpino. Doch Gall ließ sich nicht mehr entmutigen. Lächelnd dachte er, daß die verlorenen Pferde, alles in allem, ein Beitrag zur guten Sache waren.
Sie rasteten in einem verlassenen Gehöft, an dem Brandspuren zu sehen waren. Es gab keine Vegetation, kein Wasser. Gall massierte sich die vom Gehen verkrampften Beine, als Ulpino unvermittelt murmelte, sie hätten den Kreis überschritten. Er zeigte in eine Richtung, wo früher Ställe, Tiere, Viehtreiber gewesen waren und wo jetzt nur Verwüstung war. Den Kreis? Den, der Canudos vom Rest der Welt trennte. In diesem Kreis, sagte er, herrsche der gute Jesus, und außerhalb der Hund. Gall sagte nichts. Was bedeuteten letzten Endes die Namen. Sie waren nur die Verpackung, und wenn sie dazu dienten, daß Menschen ohne Schulbildung die Inhalte leichter identifizieren konnten, war es gleichgültig, ob statt von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, Freiheit oder Unterdrückung, emanzipierter Gesellschaft oder Klassengesellschaft, von Gott oder vom Teufel gesprochen wurde. Er dachte, er würde nach Canudos kommen und dort sehen, was er als junger Mann in Paris gesehen hatte: ein Volk in Aufruhr, das mit Krallen und Zähnen seine Würde verteidigte. Wenn es ihm gelang, gehört und verstanden zu werden, ja, dann würde er ihnen helfen können, und sei es nur dadurch, daß er gemeinsam mit ihnen durchstand, was sie noch nicht kannten, er aber auf seinen vielen Streifzügen durch die Welt erfahren hatte.
»Ist es Ihnen wirklich gleichgültig, daß Rufino Ihre Frau tötet«, hörte er Ulpino sagen. »Warum haben Sie sie dann geraubt?«
Er fühlte, wie die Wut ihn fast erstickte. Er habe keine Frau, brüllte er, und seine Stimme überschlug sich. Eine Frechheit, ihm eine Frage zu stellen, die er ihm schon beantwortet habe. Er spürte Haß auf Ulpino, Lust, ihn zu kränken.»Es ist so unbegreiflich«, hörte er ihn sagen.
Die Beine schmerzten ihn, seine Füße waren so geschwollen, daß er, kaum waren sie aufgebrochen, sagte, er müsse noch ein wenig ruhen. Er legte sich nieder, er dachte: Ich bin nicht mehr derselbe wie früher. Er war auch stark abgemagert; er betrachtete diesen knochigen Unterarm, auf den er seinen Kopf legte, als wäre er etwas Fremdes.
»Ich will sehen, ob ich etwas zu essen finde«, sagte Ulpino.
»Schlafen Sie eine Weile.«
Gall sah ihn hinter ein paar blattlosen Bäumen verschwinden. Bevor er die Augen schloß, sah er an einem Stamm eine wacklige Holztafel mit der verwitterten Aufschrift: Caracatá. Der Name trudelte ihm durch den Kopf, während er einschlief.
Der Löwe von Natuba horchte: er wird zu mir sprechen, dachte er, und Glück durchschauerte seinen kleinen Körper. Der Ratgeber lag schweigend auf seiner Pritsche, doch der Schreiber von Canudos konnte an seinem Atem unterscheiden, ob er wach war oder schlief. Wieder horchte er in die Dunkelheit. Ja, er lag wach. Sicher hatte er die tiefen Augen geschlossen, und unter den Lidern würde er eine jener Erscheinungen sehen, die herabschwebten und zu ihm sprachen oder zu denen er aufstieg über die hohen Wolken: die Heiligen, die Jungfrau, der gute Jesus, der Vater. Oder er dachte über die weisen Dinge nach, die er morgen sagen würde und die er, der Löwe, auf den Blättern festhalten würde, die ihm
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