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Der Krieg am Ende der Welt

Der Krieg am Ende der Welt

Titel: Der Krieg am Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Vargas Llosa
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Pater Joaquim mitgebracht hatte und die von künftigen Gläubigen gelesen würden wie von den heutigen die Evangelien.
    Da Pater Joaquim nun nicht mehr nach Canudos kam, dachte er, würde ihm bald das Papier ausgehen und er müßte die Bogen aus dem Laden der Vilanova benutzen, auf denen die Tinte auslief. Pater Joaquim hatte selten mit ihm gesprochen, und auch in seinen Augen hatte der Löwe, seit ihrer ersten Begegnung an jenem Morgen, als er hinter dem Ratgeber nach Cumbe trottete, oftmals das Erschrecken, das Unbehagen, den Abscheu wahrgenommen, den seine Gestalt bei allen hervorrief, den Blick, der sich rasch abwandte, um ihn wieder zu vergessen. Doch die Gefangennahme des Pfarrers durch dieSoldaten des Halsabschneiders und sein wahrscheinlicher Tod schmerzten ihn wegen der Wirkung, die die Nachricht auf den Ratgeber gehabt hatte. »Freuen wir uns, meine Kinder«, hatte er zur Stunde des Rats gesagt: »Belo Monte hat seinen ersten Heiligen.« Aber später, im Sanktuarium, hatte der Löwe von Natuba gesehen, wie tief seine Trauer ging. Er verweigerte das Essen, das ihm Maria Quadrado reichte; als ihn die frommen Frauen wuschen, streichelte er nicht wie sonst das Lamm, das Alexandrinha Corrêa, die Augen verschwollen vom Weinen, in seiner Reichweite hielt. Als der Löwe seinen Kopf auf die Knie des Heiligen legte, fühlte er nicht seine Hand, und später hörte er ihn seufzen: »Niemand wird mehr die Messe lesen, wir sind durch ihn verwaist.« Der Löwe hatte das Vorgefühl einer Katastrophe.
    Deshalb konnte er nicht schlafen. Was würde geschehen? Wieder stand ein Krieg bevor, und diesmal würde es schlimmer sein als bei dem Gefecht zwischen den Auserwählten und den Hunden auf dem Taboleirinho. Nun würde in den Gassen von Canudos gekämpft werden, es würde mehr Tote und Verwundete geben, und er würde als erster sterben. Niemand würde kommen und ihn retten, wie ihn der Ratgeber in Natuba vor dem Verbrennen gerettet hatte. Aus Dankbarkeit war er mit ihm gegangen, aus Dankbarkeit bei ihm geblieben und auf allen vieren durch die Welt gezockelt, trotz der übermenschlichen Anstrengungen, die diese weiten Wege ihm abverlangt hatten. Der Löwe verstand, daß viele diese Wanderungen vermißten. Damals waren sie noch wenige gewesen und hatten den Ratgeber für sich allein gehabt. Wie sich die Dinge geändert hatten! Er dachte an die Tausende, die ihn darum beneideten, Tag und Nacht neben dem Ratgeber sein zu dürfen. Und doch hatte nicht einmal er mehr Gelegenheit, allein mit dem Heiligen zu sprechen, dem einzigen Menschen, der ihn immer behandelte, als wäre er wie alle anderen. Denn nie hatte der Löwe auch nur das leiseste Anzeichen bemerkt, daß der Ratgeber in ihm dieses Wesen mit dem verkrümmten Rückgrat und dem riesigen Kopf sah, das wie ein seltsames, irrtümlich aus Menschen geborenes Tier wirkte.
    Er dachte an jene Nacht vor vielen Jahren, draußen vor Tepidó. Wie viele Pilger waren um den Ratgeber gewesen? Nach denGebeten fingen sie an, laut zu beichten. Als er an der Reihe war, sagte der Löwe von Natuba in einer unbedachten Regung etwas bis dahin Unerhörtes: »Ich glaube nicht an Gott und nicht an die Religion. Nur an dich, Vater, denn durch dich fühle ich mich als Mensch.« Eine große Stille trat ein. Erschrocken über seine Kühnheit, fühlte er die entsetzten Blicke der Pilger auf sich gerichtet. Er hörte wieder die Worte des Ratgebers in jener Nacht: »Du hast so viel gelitten, daß selbst die Teufel fortlaufen vor soviel Schmerz. Der Vater weiß, daß deine Seele rein ist, weil sie ständig büßt. Du brauchst nichts zu bereuen, Löwe: dein Leben ist Buße.«
    Er wiederholte es sich im stillen: Dein Leben ist Buße.
    Es gab aber auch Augenblicke unvergleichlichen Glücks in diesem Leben. Zum Beispiel, eine neue Lektüre zu finden, ein Stück von einem Buch, eine Zeitschriftenseite, irgendein Bruchstück von Gedrucktem, und diese märchenhaften Dinge zu erfahren, die die Buchstaben sagen. Oder sich vorzustellen, daß Almudia noch lebte und noch immer das schöne Mädchen in Natuba war, und er sang ihr etwas vor, und statt sie zu behexen und zu töten, entlockten ihr seine Lieder ein Lächeln. Oder dem Ratgeber den Kopf auf die Knie zu legen und zu fühlen, wie sich seine Finger in seine Zotteln senkten, sie zerteilten und seine Kopfhaut rieben. Es war einschläfernd, ein Wärmegefühl, das ihn von Kopf bis Fuß durchrieselte, und er spürte, daß diese Hand in seinem Haar und diese Knochen an

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