Der Krieg am Ende der Welt
kastrieren sie, reißen ihnen die Augen aus, denkt er, und da hört er Oberst Moreira César murmeln: »Diese Wahnwitzigen! Sie ziehen sie aus.« Ausziehen, wiederholt er im stillen. Und sieht wieder die von den Bäumen hängenden Körper des blonden Leutnants und seiner Soldaten. Ihn friert bis ins Mark. Der Platz zwischen den Kirchen ist noch immer von Pulverdampf verhangen. Die Augen des Journalisten wandern umher, versuchen herauszufinden, was da unten geschieht. Die Soldaten der zwei Einheiten, die in Canudos eingedrungen sind, eine links von ihm, die andere zu seinen Füßen, sind in diesem krausen Spinnennetz verschwunden, während rechts von ihm eine dritte Einheit tiefer in die Stadt eindringt. Er kann ihr Vorrücken an den Pulverwölkchen verfolgen, die ihnen vorausziehen, sich ausbreiten in diesen Gängen und Gäßchen und Biegungen und Mäandern, in denen er die Gefechte ahnt, die Schläge mit den Gewehrkolben, die Türen aufsprengen, Bretter, Latten, Dächer herunterhauen: Episoden in diesem Krieg, der durch die Zersplitterung auf tausend Häuschen ein unübersichtlicher Kleinkrieg wird, ein Kampf Mann gegen Mann, einer gegen zwei, gegen drei.Er hat an diesem Morgen noch keinen Schluck getrunken, am Abend zuvor auch nichts gegessen: sein Magen ist leer und seine Gedärme krümmen sich. Die Sonne steht hoch am Himmel. Ist es möglich, daß es schon Mittag ist, daß so viele Stunden vergangen sind? Moreira César und seine Begleiter gehen noch ein paar Meter bergab, und der Journalist stolpert ihnen nach. Er faßt Olimpio de Castro am Arm und fragt, wie es steht, wie lange dieser Kampf nun schon dauert.
»Da ist die Nachhut und die Polizei von Bahia«, sagt Moreira César, das Fernglas am Gesicht. »Auf dieser Seite können sie schon nicht mehr durch.«
Am anderen Ende der im Staub halb verschwimmenden Stadt sieht der kurzsichtige Journalist ein paar blau-grün-goldene Flecke in diesem bisher von Rauch und Bränden verschonten Sektor vorrücken, in dem sonst keine Menschen zu sehen sind. Die Kämpfe haben sich auf ganz Canudos ausgedehnt, überall brennen Häuser.
»Das dauert zu lange«, sagte Oberst Moreira César, und der kurzsichtige Journalist merkt ihm die plötzlich einsetzende Ungeduld, den Zorn an. »Die Kavallerieschwadron soll Cunha Matos zur Hand gehen.«
Sofort erkennt er an den erstaunten, widerwilligen Gesichtern der Offiziere, daß der Befehl des Oberst unerwartet und riskant ist. Niemand widerspricht, aber die Blicke der einen wie der andern sind beredter als Worte.
»Was haben Sie?« Moreira César blickt von einem Offizier zum andern. Er sieht Olimpio de Castro in die Augen. »Haben Sie einen Einwand?«
»Keinen, Exzellenz«, sagt der Hauptmann. »Nur ...«
»Weiter«, herrscht ihn Moreira César an. »Das ist ein Befehl.«
»Die Kavallerieschwadron ist unsere einzige Reserve, Exzellenz«, beendet der Hauptmann den Satz.
»Und wozu brauchen wir sie hier?« Moreira César deutet nach unten. »Da ist der Kampf. Wenn sie die Reiter kommen sehen, werden die Überlebenden den Ort verlassen, und wir können sie erledigen. Sie soll sofort angreifen.«
»Ich bitte, mit der Schwadron ausrücken zu dürfen«, stammelt Olimpio de Castro.»Sie brauche ich hier«, antwortet der Oberst schroff.
Trompetensignale sind zu hören, und Minuten später erscheinen oben auf dem Berg die Reiter in Pelotons zu zehn und fünfzehn, mit je einem Offizier an der Spitze, der den Säbel zum Gruß hebt, wenn er an Moreira César vorüberreitet.
»Kämpfen Sie die Kirchen frei, drängen Sie die Jagunços nach Norden«, schreit ihnen der Oberst zu.
Eben denkt er, daß diese angespannten Gesichter, weiße, braune, schwarze, indianische, sich nun in diesen Wirbel stürzen werden, als ihn wieder, und stärker als das letztemal, ein Niesanfall schüttelt. Die Brille springt ihm in hohem Bogen von der Nase, und während er die Atemnot, die Explosionen in Brust und Schläfen, den Juckreiz in der Nase fühlt, denkt er mit Entsetzen, daß sie vielleicht zerbrochen ist, daß jemand sie zertreten kann, daß seine Tage dann ein immerwährender Nebel sein werden. Als der Anfall vorbei ist, kniet er nieder, tastet voll Angst den Boden ab, bis er sie findet. Glücklich stellt er fest, daß sie ganz ist. Er putzt sie, setzt sie auf, schaut. Die hundert Reiter sind den Abhang schon hinunter. Wie haben sie das so schnell geschafft? Aber nun, im Fluß, passiert etwas mit ihnen. Sie kommen nicht hinüber. Die Pferde, die ins
Weitere Kostenlose Bücher