Der Krieg am Ende der Welt
Arzt mit einer Hand Skalpelle, Nadeln, Fäden, Scheren. Mehrmals hört er den Arzt mit sich selber reden, während er dem Verletzten Mullbinden anlegt, und Schimpfwörter, Flüche, Verwünschungen ausstoßen. Eine große Schläfrigkeit überkommt ihn, und der Arzt herrscht ihn an: »Seien Sie nicht blöd, jetzt ist keine Zeit zum Schlafen.« Er stottert eine Entschuldigung, und als die nächste Schüssel gebracht wird, bittet er inständig um einen Schluck Wasser.
Er bemerkt, daß sie nicht allein im Zelt sind: der Schatten, der ihm eine Feldflasche an den Mund hält, ist Hauptmann Olimpio de Castro. Da stehen auch, mit bitteren Gesichtern und ruinierten Uniformen, Oberst Tamarindo und Major Cunha Matos an der Zeltwand. »Mehr Äther?« fragt er und fühlt sich idiotisch, weil doch die Flasche längst leer ist. Doktor Souza Ferreiro hat Moreira César verbunden und deckt ihn jetzt zu. Erstaunt denkt er: Es ist schon Abend. Schatten fallen, und jemand stellt eine Lampe auf einen der Zeltpflöcke.»Wie steht es?« fragt Oberst Tamarindo.
»Der Bauch ist zerfetzt«, schnauft der Doktor. »Ich fürchte sehr, daß ...«
Während er sich die Hemdärmel herunterstreift, denkt der kurzsichtige Journalist: Wo doch gerade erst Morgen war, Mittag, wie kann die Zeit derart vergangen sein?
»Ich bezweifle sogar, daß er noch einmal das Bewußtsein erlangt«, fügt Souza Ferreiro hinzu.
Wie zur Antwort beginnt sich Moreira César zu bewegen. Alle treten herzu. Drücken ihn die Verbände? Er blinzelt. Der kurzsichtige Journalist stellt sich vor, wie er Gestalten sieht, Geräusche hört, zu verstehen, sich zu erinnern sucht, und wie aus einer anderen Zeit erinnert er sich des eigenen Erwachens nach einer vom Opium erträglich gemachten Nacht. So langsam, schwierig, unscharf muß auch des Oberst Rückkehr in die Wirklichkeit sein. Moreira César hat die Augen offen und betrachtet angstvoll Tamarindo, seine zerfetzte Uniform, die Schrammen an seinem Kragen, seine Mutlosigkeit.
»Haben wir Canudos genommen?« artikuliert er röchelnd. Oberst Tamarindo schlägt die Augen nieder und verneint. Moreira César blickt nacheinander dem Major, dem Hauptmann, dem Doktor ins Gesicht, und der Journalist bemerkt, daß er sogar ihn ansieht, prüfend wie bei einer Autopsie.
»Wir haben es dreimal versucht, Exzellenz«, stammelt Oberst Tamarindo. »Die Männer haben bis an die Grenzen ihrer Kräfte gekämpft.«
Der Oberst setzt sich auf – er ist noch bleicher geworden, als er war – und schüttelt zornig die geballte Faust:
»Ein neuer Angriff, Tamarindo. Sofort! Ich befehle es!«
»Die Verluste sind groß, Exzellenz«, murmelt der Oberst beschämt, als wäre alles seine Schuld. »Unsere Position ist nicht mehr zu halten. Wir müssen uns auf einen sicheren Platz zurückziehen und Verstärkung anfordern.«
»Das werden Sie vor einem Militärgericht zu verantworten haben«, unterbricht ihn Moreira César, die Stimme hebend.
»Das Siebte Regiment soll sich zurückziehen vor solchem Gesindel? Übergeben Sie Cunha Matos Ihren Degen.«
Wie kann er sich mit offenem Bauch derart bewegen und winden? denkt der kurzsichtige Journalist. In dem langeandauernden Schweigen blickt Oberst Tamarindo hilfesuchend die anderen Offiziere an. Cunha Matos tritt an das Feldbett:
»Wir haben viele Desertionen, Exzellenz, die Einheit ist durchbrochen. Wenn die Jagunços angreifen, nehmen sie das Lager. Befehlen Sie den Rückzug.«
»Auch Sie verraten mich?« murmelt der Oberst verzweifelt.
»Sie wissen, was dieser Feldzug für unsere Sache bedeutet. Wollen Sie sagen, ich hätte meine Ehre umsonst aufs Spiel gesetzt?«
»Wir alle haben unsere Ehre aufs Spiel gesetzt, Exzellenz«, murmelt Oberst Tamarindo.
»Wissen Sie, daß ich mich dazu hergeben mußte, mit korrupten Politikern zu konspirieren?« Moreira César spricht mit brüsken, absurden Stimmschwankungen. »Wollen Sie sagen, daß wir das Land umsonst belogen haben?«
»Hören Sie, was draußen los ist, Exzellenz«, kreischt Major Cunha Matos, und der Journalist sagt sich, daß der Oberst diese Sinfonie, dieses Geschrei, dieses Rennen, dieses Durcheinander gehört hat, sich aber nicht voll bewußt machen wolle, um sich nicht noch mehr zu ängstigen. »Die Flucht ist in vollem Gange. Wenn wir uns nicht geordnet zurückziehen, wird der Feind das Regiment vernichten.«
Der kurzsichtige Journalist hört die Holzpfeifen zwischen dem Rennen und Rufen. Oberst Moreira César sieht sie offenen Mundes einen
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