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Der Krieg am Ende der Welt

Der Krieg am Ende der Welt

Titel: Der Krieg am Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Vargas Llosa
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aufgeschrieben«, hörte er ihn mit seiner schönen, melodischen Stimme sagen. Er sprach zu ihm, wollte sich liebenswürdig zeigen. »Seine Gedanken, seine Ratschläge, seine Gebete, seine Prophezeiungen, seine Träume. Für die Nachwelt. Um der Bibel ein neues Evangelium anzufügen.«
    »Ja«, murmelte der kurzsichtige Journalist verwirrt.
    »Aber es gibt in Belo Monte kein Papier und keine Tinte mehr, und die letzte Feder ist mir zerbrochen. Wir können nicht mehr verewigen, was er sagt«, fuhr der Löwe von Natuba ohne Bitterkeit, mit der gleichen ruhigen Ergebenheit fort, die der kurzsichtige Journalist auch an anderen Leuten hier festgestellt hatte, die der Welt begegneten, als ob Unglück eine Naturerscheinung wäre, wie Regenfälle, Sonnenuntergänge, Fluten, gegen die zu rebellieren sinnlos wäre.
    »Der Löwe von Natuba ist klug«, murmelte der Pfarrer von Cumbe. »Was ihm Gott an den Beinen, am Rücken, an den Schultern genommen hat, hat er ihm an Klugheit dazugegeben. Ist es nicht so, Löwe?«
    »Ja«, nickte der Schreiber von Canudos, und der kurzsichtige Journalist, von dem sich die großen Augen keinen Augenblick abwandten, war sicher, daß es stimmte. »Ich habe das Meßbuchund die Stundengebete viele Male gelesen. Und alle Zeitschriften und Papiere, die mir die Leute früher als Geschenk brachten. Viele Male. Hat der Herr auch oft gelesen?« Der kurzsichtige Journalist fühlte sich so verlegen, daß er am liebsten auf und davon gelaufen wäre, und sei es hinaus in den Krieg.
    »Ja, ich habe ein paar Bücher gelesen«, antwortete er beschämt. Und dachte: Genutzt haben sie mir nicht. Auch das hatte er in diesen Monaten entdeckt: Bildung, Kenntnisse: Lügen, Ballast, Binden vor den Augen. Alles Lesen hatte ihm nicht dazu verholfen, hier fortzukommen, sich aus dieser Falle zu befreien.
    »Ich weiß, was Elektrizität ist«, sagte der Löwe von Natuba stolz. »Wenn der Herr will, kann ich es ihm erklären. Und der Herr kann mir statt dessen Dinge beibringen, die ich vielleicht nicht kenne. Ich weiß, was das archimedische Prinzip oder Gesetz ist. Und wie Körper mumifiziert werden. Ich kenne die Entfernung zwischen den Gestirnen.«
    Eine Reihe heftiger Gewehrsalven brach los, alle aus einer Richtung, und der kurzsichtige Journalist entdeckte, daß er dem Krieg dankbar dafür war, dieses Wesen zum Schweigen zu bringen, dessen Stimme, Nähe, Existenz ihm so tiefes Unbehagen bereiteten. Wieso konnte ihn jemand derart verstören, der doch nur sprechen wollte, der seine Vorzüge und Stärken vorzeigte, um seine Sympathie zu erlangen? Weil ich ihm gleiche, dachte er, weil ich in dieselbe Kette gehöre, in der er das schwächste Glied ist.
    Der Pfarrer von Cumbe lief an die Tür nach draußen, öffnete sie, und ein Schwall Abendlicht drang herein, das ihm andere Züge des Löwen von Natuba zeigte: die dunkle Haut, die scharf geschnittenen Linien seines Gesichts, das Büschel Flaum an seinem Kinn, die stahlharten Augen. Am meisten aber verblüffte ihn die Haltung: dieses Gesicht zwischen zwei knochigen Knien, der unförmige Höcker hinter dem Kopf, wie ein auf die Schultern gebundenes Bündel, und die um die Knie geschlungenen, wie Spinnenbeine langen und dünnen Arme. Wie konnte ein menschliches Skelett sich derart zusammenziehen und verrenken? Welche absurden Krümmungen hatten diese Wirbelsäule, diese Rippen, diese Knochen? Pater Joaquimverständigte sich laut schreiend mit denen draußen: ein neuer Angriff, irgendwo brauchten sie Leute. Der Pfarrer trat in den Raum zurück, und der Journalist erriet, daß er sein Gewehr holte.
    »Sie greifen die Barrikaden in der São Cipriano an«, hörte er ihn schnaufen. »Geh in den Tempel des guten Jesus, da bist du sicherer. Adieu, die Mutter Gottes möge uns schützen.« Er rannte hinaus, und der kurzsichtige Journalist sah, daß Alexandrinha Corrêa das Lamm an sich zog, das verängstigt blökte. Sie fragte den Löwen von Natuba, ob er mit ihr käme, und die harmonische Stimme erwiderte, er werde im Sanktuarium bleiben. Und er? Und er? Sollte er bei dem Monstrum bleiben? Sollte er der Frau nachlaufen? Aber sie war schon gegangen, und das kleine Zimmer lag wieder im Halbdunkel. Die Hitze war erstickend. Die Schießerei nahm zu. Im Geist sah er die Soldaten den Wall aus Steinen und Sandsäcken durchbrechen, auf Leichen treten, sich wie ein Strom dahin ergießen, wo er war.
    »Ich will nicht sterben«, stammelte er und fühlte, daß er nicht einmal mehr weinen

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