Der Krieg am Ende der Welt
hörte er ihn murmeln. »Anastásio ist vierzehn, Joaquinzinho noch keine dreizehn. Seit einem Jahr töten sie und setzen ihr Leben aufs Spiel. Ist es nicht traurig?«
»Ja«, stammelte der kurzsichtige Journalist. »Traurig, traurig. Ich habe geschlafen. Was ist mit dem Krieg, Pater?« »In der São Pedro sind sie aufgehalten worden«, sagte der Pfarrer von Cumbe. »An der Barrikade, die Antônio Vilanova am Morgen gebaut hat.«
»Soll das heißen, hier in der Stadt?« fragte der Kurzsichtige.
»Dreißig Schritte von hier.«
Die São Pedro. Diese Straße, die vom Fluß bis zum Friedhof durch ganz Canudos ging, parallel zur Campo Grande, eine der wenigen Straßen, die diesen Namen verdiente. Jetzt war sie eine Barrikade, und dort standen die Soldaten. Dreißig Schritte von hier. Er fror. Das Raunen der Gebete wurde stärker, wurde schwächer, verstummte, kehrte wieder, und der kurzsichtige Journalist dachte, daß die Leute dazwischen die heisere Stimme des Ratgebers oder die zarte, singende des Beatinho hörten und daß die Frauen, die Verwundeten, die Alten, die Sterbenden, die Jagunços an den Gewehren im Chor die Ave-Marias respondierten. Was wohl die Soldaten über diese Gebete dachten? »Es ist auch traurig, daß ein Pfarrer zum Gewehr greifen muß«, sagte Pater Joaquim und schlug auf die Waffe, die er nach Art der Jagunços auf den Knien liegen hatte. »Ich konnte nichtschießen. Auch Pater Martinez hat nie geschossen, nicht einmal, um ein Stück Wild zu erlegen.«
War das der kleine Alte, den der kurzsichtige Journalist in Todesangst vor Oberst Moreira César hatte winseln hören? »Pater Martinez?« fragte er.
Er erriet das Mißtrauen Pater Joaquims. Also gab es noch mehr Pfarrer in Canudos. Im Geist sah er sie die Waffen laden, zielen, schießen. Stand denn die Kirche nicht auf seiten der Republik? War der Ratgeber nicht vom Erzbischof exkommuniziert worden? Waren nicht in allen Gemeinden Verurteilungen des fanatischen Häretikers und Wahnsinnigen von Canudos verlesen worden? Wie konnte es Pfarrer geben, die für den Ratgeber töteten?
»Hören Sie sie? Horchen Sie: Fanatiker! Sebastianiten! Kannibalen! Engländer! Mörder! Wer ist denn hierher gekommen, um Kinder und Frauen zu töten, um die Leute abzuschlachten? Wer hat dreizehn- und vierzehnjährige Kinder gezwungen, Waffen in die Hand zu nehmen? Sie, Herr Journalist, sind hier und leben, nicht wahr?«
Panischer Schrecken fuhr ihm durch alle Glieder. Pater Joaquim würde ihn der Rache und dem Haß der Jagunços überliefern.
»Sie sind mit dem Halsabschneider gekommen, war es nicht so?« fügte der Pfarrer hinzu. »Und doch hat man Ihnen hier Gastfreundschaft gewährt, hat Ihnen ein Dach und Essen gegeben. Glauben Sie, die Soldaten würden mit einem Mann von Pedrão, von Pajeú, von João Abade ebenso verfahren?« Mit zugeschnürter Kehle stotterte er:
»Ja, ja, Sie haben recht. Ich bin Ihnen sehr dankbar, daß Sie mir so geholfen haben, Pater Joaquim. Das schwöre ich Ihnen.« »Zu Dutzenden, zu Hunderten sterben sie«, sagte Pater Joaquim und deutete auf die Straße. »Warum? Weil sie an Gott glauben, weil sie ihr Leben nach dem Gesetz Gottes führen. Und deshalb werden sie hingemetzelt, unschuldig wie die Kinder von Bethlehem.«
Würde er in Tränen ausbrechen, um sich schlagen, sich vor Verzweiflung auf dem Boden wälzen? Doch der kurzsichtige Journalist sah, daß sich der Pfarrer mühsam beherrschte und mit hängendem Kopf sitzen blieb, auf die Schüsse, die Gebete,die Glocken horchend. Schüchtern, von seinem Schrecken noch nicht erholt, fragte er den Pfarrer, ob er Jurema und den Zwerg nicht gesehen hätte. Der Pfarrer schüttelte den Kopf. Da hörte er neben sich eine wohltönende Baritonstimme:
»Sie waren in der São Pedro, sie haben geholfen, die Barrikade errichten.«
Die zersplitterte Brille zeigte ihm verschwommen den Löwen von Natuba, der neben der offenstehenden Tür zum Sanktuarium saß oder kniete, in seinem erdfarbenen Kleid jedenfalls irgendwie zusammengekauert war und ihn mit seinen großen glänzenden Augen ansah. War er schon länger da oder eben erst aufgetaucht? Das seltsame Wesen, halb Mensch, halb Tier, verwirrte ihn so, daß er es nicht über sich brachte, ihm zu danken oder auch nur ein Wort zu sagen. Er sah ihn kaum, denn das Licht war schwächer geworden, obwohl ein letzter Sonnenstrahl durch die Ritzen fiel und auf dem dichten Zottelhaar des Schreibers von Canudos erlosch.
»Ich habe alle Worte des Ratgebers
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