Der Krieg am Ende der Welt
wäre, sie verhungern zu lassen, und absurd, die Rationen der Patrioten zu kürzen, um Ungeheuer zu füttern, die fähig sind zu tun, was sie mit diesem Offizier getan haben.
Als er den Rundgang beendet, bleibt er vor einem Soldaten stehen, den zwei Krankenpfleger halten, während ihm ein Bein amputiert wird. Der Chirurg, auf den Knien, sägt, und der General hört, wie er jemand bittet, ihm den Schweiß aus den Augen zu wischen. Auch so wird er nicht viel sehen, denn es ist wieder windig geworden, die Fackel tanzt. Als der Chirurg aufsteht, erkennt der General in ihm den jungen Studenten aus São Paulo, Teotônio Leal Cavalcanti. Sie tauschen einen Gruß. Als General Oscar ins Hauptquartier zurückkehrt, begleitet ihn das schmale, verquälte Gesicht des Studenten, dessen Selbstlosigkeit von seinen Kollegen und Patienten gerühmt wird. Erst vor ein paar Tagen war dieser junge Mann, den er nicht kannte, zu ihm gekommen, um ihm zu sagen: »Ich habe meinen besten Freund getötet, ich will bestraft werden.« Sein Adjutant, Leutnant Pinto Souza, der bei dem Gespräch zugegen war, wurde fahl, als er erfuhr, wer der Offizier war, dem Teotônio aus Mitleid eine Kugel in die Schläfe geschossen hat. Die Szene hat den General erschüttert. Mit versagender Stimme beschriebihm Teotônio Leal Cavalcanti den Zustand von Leutnant Pires Ferreira – blind, ohne Hände, an Leib und Seele zerstört –, die inständigen Bitten, seinem Leiden ein Ende zu machen, und die Gewissensbisse, die ihn verfolgen, weil er es getan hat. General Oscar hat ihm befohlen, absolutes Stillschweigen zu bewahren und seine Tätigkeit fortzusetzen, als ob nichts geschehen wäre. Nach Beendigung der militärischen Operationen werde er über seinen Fall beschließen.
Im Haus des Feuerwerkers, schon in der Hängematte, erhält er Bescheid von Leutnant Pinto Souza, der eben von der Favela zurückgekehrt ist: Am frühen Morgen wird die Siebte Brigade hier eintreffen, um die »schwarze Linie« zu verteidigen.
Er schläft fünf Stunden, und als er am Morgen seinen Kaffee trinkt und ein paar von diesen Maizenafladen ißt, die der Schatz in seiner Vorratskammer sind, fühlt er sich ausgeruht und voll Tatkraft. An der ganzen Front herrscht eine seltsame Stille. Gleich werden die Bataillone der Siebten Brigade eintreffen, und um ihren Marsch auf freiem Gelände zu schützen, befiehlt der General, daß die Krupp-Kanonen die Türme beschießen sollen. Seit den ersten Tagen hat er die Heeresleitung gebeten, sie solle ihm mit der Verstärkung diese 70-Millimeter-Spezialgranaten mit Stahlspitzen schicken, die in der Casa da Moneda in Rio hergestellt wurden, um die Schiffe zu versenken, die am 6. September in den Aufstand getreten waren. Warum gehen sie nicht darauf ein? Er hat der Dienststelle erklärt, daß Schrapnells und Benzingeschosse nicht ausreichen, um diese verfluchten, aus massivem Fels gebauten Türme zu zerstören. Warum stellen sie sich taub?
Der Tag verläuft ruhig, mit vereinzelten Schießereien, und General Oscar ist damit beschäftigt, die frischen Männer der Siebten Brigade auf die »schwarze Linie« zu verteilen. Bei einer Besprechung mit seinem Generalstab lehnt er es kategorisch ab, einen neuen Angriff zu starten, solange die Verstärkung nicht da ist. Man wird einen Stellungskrieg führen und versuchen, nach und nach durch Teilangriffe, ohne die Truppe zu exponieren, die rechte, auf den ersten Blick schwächste Flanke von Canudos einzudrücken. Des weiteren wird beschlossen, daß eine Expedition mit den transportfähigen Verwundeten nach Monte Santo aufbrechen soll. Am Mittag, als sie die OberstenTelles und Serra Martins neben dem Fluß beerdigt haben – ein einziges Grab, zwei kleine Holzkreuze –, erhält General Oscar eine schlimme Nachricht: Oberst Neri wurde von einer verlorenen Kugel in die Hüfte getroffen, während er an einer Kreuzung der »schwarzen Linie« ein natürliches Bedürfnis verrichtete. In dieser Nacht wird er von heftigem Gewehrfeuer geweckt. Die Jagunços greifen die Krupp-Kanonen 7,5 an, die auf dem freien Gelände stehen, und das Zweiunddreißigste Infanteriebataillon muß in aller Eile den Artilleristen zu Hilfe kommen. In der Dunkelheit sind die Jagunços vor der Nase der Posten über die »schwarze Linie« gekommen. Der Kampf ist hart, dauert zwei Stunden, und die Verluste sind hoch: sieben Soldaten sind gefallen, fünfzehn verwundet, unter ihnen der Fähnrich. Aber die Jagunços haben fünfzig Tote, und siebzehn
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