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Der Krieg am Ende der Welt

Der Krieg am Ende der Welt

Titel: Der Krieg am Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Vargas Llosa
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was er von den Lippen seines Besuchers gehört hatte. Das war geschehen, als sich der kurzsichtige Journalist, die kleine Angestellte aus Calumbí, die seine Frau war, der Zwerg oder sonst einer der Überlebenden schon nicht mehr in Canudos aufhielten. Der alte »Oberst« Murau hatte es ihm bei einem Glas Portwein erzählt, als sie sich das letztemal hier in Salvador gesehen hatten, und Murau wiederum hatte es von dem Besitzer der Fazenda Formosa, einer der vielen, die von den Jagunços abgebrannt worden waren. Der Mann war trotz allem geblieben, weil er sein Land liebte oder weil er nichtwußte, wohin. Er hatte die ganzen Kriegsmonate dort verbracht, sich über Wasser haltend durch Geschäfte mit den Soldaten. Als er erfuhr, daß alles vorüber war, daß Canudos gefallen war, ging er in aller Eile mit einer Gruppe Landarbeiter hin, um Hilfe zu leisten. Das Heer war schon abgezogen, als sie die Berge der einstigen Zitadelle der Jagunços erkannten. Schon aus der Entfernung seien sie überrascht gewesen, hatte »Oberst« Murau erzählt – und da saß er, der Baron, und hörte ihm zu – von dem seltsamen, undefinierbaren, unergründlichen Rauschen, das so stark war, daß die Luft davon zitterte. Und da war auch der atemberaubende Gestank, der ihnen den Magen umdrehte. Aber erst, als sie den graubraunen, steinigen Hang bei Poço Trabubú hinuntergingen und ihnen zu Füßen lag, was nun aufgehört hatte, Canudos zu sein, und nur noch das war, was sie sahen, begriffen sie, daß dieses Rauschen das Flügelschlagen und die Schnabelhiebe Tausender von Aasgeiern waren, eines endlosen Meers grauer, schwarzer, schlingender, übersättigter Wellen, das alles zudeckte und zugleich, während es sich sättigte, Zeugnis ablegte von allem, was noch nicht hatte pulverisiert werden können vom Dynamit, von Kugeln, von Bränden: all diese Körperteile, Gliedmaßen, Köpfe, Wirbelsäulen, Wirbel, Gedärme, Häute, die das Feuer verschont oder nur halb verkohlt hatte und die nun von den gierigen Vögeln weichgehackt, zerstückelt, geschluckt und verschlungen wurden. »Tausende und Abertausende von Aasgeiern«, hatte Oberst Murau gesagt. Und auch, daß der Fazendeiro von Formosa und seine Landarbeiter vor Entsetzen über diesen Anblick, der einen Alptraum zu materialisieren schien, begriffen hätten, daß da niemand mehr beerdigt zu werden brauchte, weil schon die Vögel es taten, und eilig, sich Mund und Nasen zuhaltend, den Rückweg antraten. Das aufdringliche, unerbetene Bild hatte in seinem Kopf Wurzeln geschlagen, und es gelang ihm nicht, es auszureißen. »Das Ende, das Canudos verdient hat«, hatte der alte Murau zu ihm gesagt, bevor er ihn zwang, das Thema zu wechseln.
    War es das, was ihn verwirrte, ängstigte, umtrieb? Dieser Schwarm schlingender Raubvögel über der menschlichen Verwesung, die alles war, was von Canudos übrigblieb? Fünfundzwanzig Jahre schmutziger, schmieriger Politik, um Bahia vorden Schwachköpfen und Versagern zu retten, die der Verantwortung, die sie zu tragen hatten, nicht gewachsen waren, und am Ende ein Festschmaus für Aasgeier, dachte er. Und da, über dem Bild der Hekatombe, erschien wieder das tragikomische Gesicht, der Hampelmann mit den schielenden, wäßrigen Augen und den aufreizenden Auswüchsen: dem überlangen Kinn, den unnatürlich tief hängenden Ohren, der ihm fieberhaft von Liebe und Lust sprach: »Das Größte, was es auf der Welt gibt, Baron, das einzige, wodurch der Mensch so etwas wie Glück finden kann, erfahren kann, was das sogenannte Glück ist.« Das war es. Das war es, was ihn verwirrte, ängstigte, umtrieb. Er trank einen Schluck Cognac, behielt das brennende Getränk eine Zeitlang im Mund, schluckte und fühlte, wie es wärmend durch seine Kehle rann.
    Er stand auf. Er wußte noch nicht, was er tun würde, was zu tun es ihn trieb, aber er fühlte ein Prickeln im Bauch und ihm war, als stünde er vor einem entscheidenden Augenblick, als müsse er jetzt gleich einen Entschluß von unabsehbaren Folgen treffen. Er stellte das Cognacglas in den Getränkeschrank zurück und fühlte, während er durch das Arbeitszimmer, den großen Salon, den weiten, dunklen, nur durch den Schein der Straßenlaternen erleuchteten Vorraum an die Treppe ging, sein Herz und seine Schläfen pochen, sein Blut die Geographie seines Körpers durchlaufen. Ein Lämpchen beleuchtete die Stufen. Er stieg rasch hinauf, nur mit Fußspitzen auftretend, so daß nicht einmal er seine Schritte hörte. Oben steuerte

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