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Der Krieg am Ende der Welt

Der Krieg am Ende der Welt

Titel: Der Krieg am Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Vargas Llosa
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bestand der Zirkus des Zigeuners aus etwa zwanzig Personen, falls man Geschöpfe wie die Frau mit Bart, den Zwerg, den Spinnenmann, den Riesen Pedrino und Julião,den Frosch-Schlucker, als Personen bezeichnen konnte. Damals zog der Zirkus in einem roten Wagen umher, der mit Trapezkünstler-Figuren bemalt war und von den vier Pferden gezogen wurde, auf denen die Irmãos Franceses ihre akrobatischen Kunststücke vorführten. Er besaß auch einen kleinen Zoo, Gegenstück zu der Sammlung menschlicher Kuriositäten, die der Zigeuner auf seinen Wanderungen zusammengebracht hatte: ein fünfbeiniges Schaf, einen Affen mit zwei Köpfen, eine (normale) Kobra, die mit Vögelchen gefüttert werden mußte, und einen Ziegenbock mit drei Reihen Zähnen, dem Pedrino mit seinen Riesenhänden das Maul aufmachte, wenn er ihn dem Publikum vorführte. Ein Zelt hatten sie nie gehabt. Die Vorstellungen fanden zum Jahrmarkt oder zum Fest des Dorfheiligen auf dem Dorfplatz statt.
    Sie zeigten Kraft- und Balanceakte, boten Magie und Weissagungen, der Neger Solimão verschluckte Säbel, der Schlangenmensch kletterte seidenweich die eingeseifte Stange hoch und versprach jedem, der es ihm gleichtun könne, ein fabulöses Conto-de-reis, der Riese Pedrino sprengte Ketten, die Bärtige ließ die Kobra tanzen und küßte sie aufs Maul, und als Clowns, mit angesengten Korken und Reispulver geschminkt, legten alle gemeinsam zweifach, vierfach, sechsfach den Idioten zusammen, der keine Knochen zu haben schien. Aber der Star war der Zwerg, der feinfühlig und vehement und romantisch Romanzen erzählte: von der Prinzessin Magelone, Tochter des Königs von Neapel, die vom Ritter Pierre geraubt wurde, und ein Seemann fand ihre Juwelen im Bauch eines Fischs; von der schönen Silvaninha, die kein Geringerer als ihr eigener Vater zur Frau nehmen wollte; von Karl dem Großen und den zwölf Pairs von Frankreich; von der unfruchtbaren Herzogin, die vom Teufel beschlafen wurde und Robert den Teufel zur Welt brachte; von Olivier und Fierabras. Die Nummer des Zwergs war immer die letzte, da sie die Freigebigkeit des Publikums anregte.
    Der Zigeuner mußte an der Küste wohl noch unbeglichene Rechnungen bei der Polizei haben, denn selbst in Zeiten der Dürre mied er diese Gegend. Er war ein gewalttätiger Mann, dem bei dem geringsten Vorfall die Hand ausrutschte, und dann schlug er erbarmungslos auf alles ein, was seinen Zornerregte, Mann, Frau oder Tier. Doch trotz seiner Mißhandlungen wäre es keinem der Zirkusleute auch nur im Traum eingefallen, ihn zu verlassen. Er war die Seele des Zirkus, er hatte ihn aufgebaut, indem er überall diese Geschöpfe auflas, die das Gespött ihrer Dörfer und Familien waren, Anormale, die in den Augen der andern eine Strafe Gottes und aus der Art geschlagen waren. Für alle, den Zwerg, die Bärtige, den Riesen, den Spinnenmann, sogar für den Idioten, der es nicht begriff, aber fühlen konnte, war der Wanderzirkus ein gastlicherer Herd als der, aus dem sie kamen. In der Karawane, die bergauf, bergab und im Kreis durch die glühendheißen Sertões zog, lebten sie nicht mehr schamvoll und verschreckt, denn dadurch, daß sie die Anormalität mit anderen teilten, fühlten sie sich normal.
    Deshalb konnte keiner von ihnen diesen zottelhaarigen, fast beinlosen, auf allen vieren laufenden Jungen aus Natuba begreifen. Sie hatten bemerkt, daß ihn der Zigeuner während der Vorstellung mit Interesse beobachtete. Denn zweifellos fühlte sich der Zigeuner von Monstren – Mensch oder Tier – aus einem tieferen Grund angezogen als wegen des Nutzens, den er aus ihnen schlagen konnte. Vielleicht fühlte er sich gesünder, unversehrter, vollkommener in dieser Gesellschaft von Mißgeburten und Raritäten. Jedenfalls erfragte er nach der Vorstellung das Haus des Jungen, ging hin, stellte sich den Eltern vor und überredete sie, den Jungen ihm zu überlassen: er würde einen Artisten aus ihm machen. Das Unbegreifliche war, daß dieser Junge eine Woche später weglief, als der Zigeuner ihm eben eine Nummer als Tierbändiger beigebracht hatte. Der Unstern begann mit der großen Dürre durch die Halsstarrigkeit des Zigeuners, der nicht an die Küste hinunterwollte, sosehr die Zirkusleute ihn darum baten. Sie stießen auf menschenleere, in Schädelstätten verwandelte Dörfer und Fazendas, sie begriffen, daß sie verdursten konnten. Doch der Zigeuner gab nicht nach, und eines Nachts sagte er zu ihnen: »Ich schenke euch die Freiheit. Ihr könnt gehen.

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