Der Krieg, der viele Vaeter gatte
Winken, Händeschütteln, Freudentränen, Fahnenschwenken. Als Hitlers Wagenkolonne gegen Abend auf den Marktplatz der Stadt Linz rollt, warten dort schon 60.000 Menschen zum Empfang. Hitler hält eine kurze Rede und wird dabei wieder und immer wieder von Beifallsstürmen unterbrochen. Die Begeisterung der Menschenmenge hinterläßt ihm, der sich bis dahin der ungeteilten Zustimmung der Österreicher nicht sicher sein konnte, einen tiefen Eindruck.
Bundeskanzler Seyß-Inquart, frisch vom österreichischen Bundespräsidenten vereidigt, und einige der neu ernannten Bundesminister sind zur Begrüßung Hitlers nach Linz gekommen. Seyß-Inquart, der immer noch kein Freund des Einmarschs ist, schlägt Hitler vor, auch österreichische Truppen ins Deutsche Reich zu schicken, um aller Welt zu zeigen, daß sich hier eine freiwillige Vereinigung vollzieht und keine einseitige Eroberung. Hitler ist von dem Vorschlag angetan und ordnet auf der Stelle an, so zu verfahren. Schon tags darauf marschieren österreichische Truppen nach München, Dresden, Stuttgart und Berlin. 40
Bis Linz hat Hitler offensichtlich kein politisches Konzept für diesen bis vor drei Tagen nicht geplanten Einmarsch. So ist ihm bis dato noch nicht klar, in welcher Weise Österreich nun dem „Altreich" angeschlossen werden soll. Dem vom überstürzten Ablauf des Geschehens selber überraschten Hitler schwebt bis zu dem überwältigenden Empfang, den ihm die Österreicher in Linz bereiten, offensichtlich zunächst nur vor, Österreich als eigenen Staat in Personalunion mitzuregieren 41 . In Linz beschließt er, Österreich dem „Altreich" als neuen Reichsteil anzuschließen. Auch kann sich Hitler immer noch entscheiden, ob er auf das Ergebnis der nun verschobenen Volksabstimmung wartet und es Seyß-Inquart überläßt, den Anschluß zu vollziehen, oder ob er selber vorher Fakten schafft. Der Völksauflauf von Linz und die Begeisterung der Menschen bestärken Hitler, letzteres zu tun.
Sonntag morgen, den 13. März 1938 um 1 Uhr früh, rollt die erste Wehrmachtseinheit in Österreichs Hauptstadt Wien ein. Die Straßen sind trotz Nacht und Kälte voll von Menschen. Vor der Oper ist ein österreichisches Musikkorps angetre
IMT-Verhandlungen, Band XV, Seite 664 ff v. Weizsäcker-Papiere, Seite 124
ten und empfangt die ersten deutschen Truppen zu einer improvisierten Militärparade. Die Polizeiabsperrungen, die die Menschen von den vorbeimarschierenden Wehrmachtskompanien trennen sollen, brechen unter dem Ansturm der begeisterten Menge bald zusammen. Um 2.30 Uhr trifft das erste Bataillon der Wehrmacht in der Rennweg-Kaserne ein und wird dort vom 3. Wiener Infanterie-Regiment mit Ehrenkompanie, Fahne und Musik erwartet. Ein ähnliches Bild zeigt sich beim Eintreffen deutscher Truppen an den Grenzübergängen nach Italien und Jugoslawien. Auch dort werden die Wehrmachtstruppen von den italienischen und jugoslawischen Grenztruppen mit Zeremoniell empfangen. Der Militäreinmarsch vollzieht sich so, als wäre der politische Anschluß Österreichs schon vorausgegangen.
Doch noch sind Seyß-Inquart Bundeskanzler und Miklas Bundespräsident von Österreich. Gegen Abend allerdings erklärt Miklas seinen Rücktritt vom Amt des Bundespräsidenten. Damit gehen nach geltender Verfassung, Artikel 77, die Befugnisse des Präsidenten auf den Bundeskanzler über. So ist Seyß-Inquart für ganz kurze Zeit Regierungschef und Staatsoberhaupt in einem. Schon am Vormittag des Tages hatten Seyß-Inquart als Bundeskanzler, Glaise-Horstenau als Vizekanzler und Justizminister Hueber ein neues „Bundesverfassungsgesetz" verfaßt und unterschrieben, in dem es heißt:
„Artikel I
Österreich ist ein Land des Deutschen Reiches.
Artikel II
Sonntag, den 10. April 1938, findet eine freie und geheime Volksabstim
mung der über 20 Jahre alten deutschen Männer und Frauen Österreichs
über die Wiedervereinigung mit dem Deutschen Reich statt.
...
Artikel V
Dieses Bundesverfassungsgesetz tritt am Tage seiner Kundmachung in
Kraf t...
Wien, den 13. März 1938
Seyß-Inquart, Bundeskanzler
Glaise-Horstenau, Vizekanzler
42
Hueber, Justizminister"
Als reichsdeutsches Gegenstück dazu unterzeichnet Adolf Hitler das „Gesetz über die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich. Die Artikel lauten:
„Artikel I
Das von der österreichischen Bundesregierung beschlossene Bundesver
fassungsgesetz über die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deut
schen Reich
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