Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (German Edition)

Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (German Edition)

Titel: Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
Vom Netzwerk:
Tür aufgehen und meine Angehörigen hereinkommen würden. Vater und Mutter ... Ich wusste, wo ich mich befand, und war glücklich, dass ich niemanden verriet. Mehr als den Tod fürchteten wir, jemanden zu verraten. Als ich verhaftet wurde, war mir klar, dass nun die Zeit der Qualen gekommen war. Ich wusste, mein Geist war stark – aber mein Körper?
    An das erste Verhör erinnere ich mich nicht. Oder kaum. Ich wurde nicht bewusstlos ... Nur einmal kurz, als man mir mit einem Rad die Arme verdrehte. Ich glaube, ich habe nicht geschrien, obwohl man mir vorher demonstriert hatte, wie andere schreien. Bei den folgenden Verhören war mein Schmerzgefühl abgestumpft, der Körper wurde gefühllos. Wie ein Stück Holz. Erst wenn alles vorbei war, wenn sie mich wieder in die Zelle geschleift hatten, spürte ich den Schmerz, dann wurde ich zu einer einzigen Wunde. Zu einer einzigen großen Wunde. Der ganze Körper ... Doch ich dachte nur: Durchhalten! Durchhalten! Damit Mama erfährt, dass ich als Mensch sterbe, dass ich niemanden verraten habe. Mama!
    Ich wurde geschlagen und aufgehängt. Immer vollkommen nackt. Sie fotografierten mich. Wenn sie mich fotografierten, empfand ich Schmerzen. Seltsam – das bereitete mir körperliche Schmerzen. Bei allem anderen blieb ich stumpf. Mit den Armen konnte ich nur die Brust bedecken ... Ich habe gesehen, wie Menschen verrückt wurden ... Ich habe gesehen, wie der kleine Kolja, er war noch kein Jahr alt, wir sprachen ihm immer das Wort ›Mama‹ vor, wie er, als seine Mutter abgeholt wurde, auf unerklärliche Weise begriff, dass er sie für immer verliert, und zum ersten Mal im Leben schrie: ›Mama!‹ Das war nicht nur ein Wort, das war mehr als ein Wort ... Ich möchte Ihnen erzählen ... Alles erzählen ... Ach, was für Menschen bin ich dort begegnet! Sie starben in den Kellern der Gestapo, und von ihrem Mut wissen nur die Wände. Noch heute, nach vierzig Jahren, knie ich in Gedanken vor ihnen nieder. ›Sterben ist das Leichteste‹, sagten sie. Aber leben ... Wir wollten so gern leben! Wir glaubten: Der Sieg wird kommen. Nur an einem zweifelten wir – werden wir diesen großen Tag noch erleben?
    In unserer Zelle gab es ein kleines Fenster, nein, kein Fenster, ein Loch, wenn jemand dich auf die Schultern nahm, dann sahst du ein Stück Himmel, nein, nicht einmal, nur ein Stück Dach. Aber wir waren alle so schwach, wir konnten einander nicht hochheben. Doch unsere Anja, die Fallschirmspringerin ... Sie wurde kurz nach dem Absprung aus dem Flugzeug gefangen genommen, die Gruppe war in einen Hinterhalt geraten. Und sie, von der Prügel blutüberströmt, bat uns: ›Hebt mich hoch, ich will in die Freiheit sehen. Ich will dorthin!‹
    Ich will – und aus. Mit vereinten Kräften hoben wir sie an, und sie rief: ›Kinder, da steht eine Blume!‹ Da bat jede: ›Ich auch ...‹, ›Ich auch ...‹ Irgendwoher nahmen wir die Kraft und halfen einander. Es war ein Löwenzahn – unbegreiflich, wie er da aufs Dach gekommen war, wie er sich dort halten konnte. Jede von uns versuchte, aus seinen Blättern die Zukunft zu lesen. Heute denke ich, wahrscheinlich fragte sich jede, ob sie wohl lebend aus dieser Hölle rauskommen würde.
    Früher habe ich den Frühling sehr geliebt. Ich liebte es, wenn die Kirschbäume blühten und es unter den Fliederbüschen süß nach Flieder duftete ... Wundern Sie sich nicht über meinen Stil, ich habe Gedichte geschrieben. Heute mag ich den Frühling nicht mehr. Der Krieg ist zwischen uns getreten, zwischen mich und die Natur. Als die Kirschbäume blühten, sah ich Faschisten in meiner Heimatstadt Shitomir ...
    Durch ein Wunder blieb ich am Leben. Ich wurde gerettet von Menschen, die meinem Vater danken wollten. Mein Vater war Arzt, das war damals sehr viel. Ich wurde im Dunkeln aus der Reihe gestoßen, als man uns zur Erschießung führte. Vor Schmerzen bekam ich nichts mit, ich lief wie im Schlaf ... Sie brachten mich nach Hause, ich war voller Wunden und bekam sofort nervösen Hautausschlag. Ich konnte nicht einmal menschliche Stimmen ertragen. Sobald ich eine Stimme hörte, bekam ich sofort Schmerzen. Ich schrie die ganze Zeit, still war ich nur im heißen Wasser. Ich klammerte mich an meine Mutter, sie durfte mir nicht von der Seite weichen, auch wenn sie sagte: ›Kind, ich muss zum Ofen. In den Garten ...‹ Ich hielt sie fest, ließ sie nicht los. Sobald ich ihre Hand losließ, stürmte wieder alles auf mich ein. Alles, was ich erlebt hatte. Um

Weitere Kostenlose Bücher