Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (German Edition)
getestet hatte, die Achseln zuckte, lachte der Wehrbeauftragte und sagte, ich hätte umsonst gehungert. Doch ich erwiderte prompt, ich würde wegen des Hungerstreiks schlecht sehen. Ich ging zum Fenster, näher ran an die unglückselige Tafel, und fing an zu heulen. Ich heulte lange ... Sehr lange ... Bis ich die unterste Zeile auswendig konnte. Dann wischte ich mir die Tränen ab und sagte, ich sei bereit, den Sehtest zu wiederholen. Diesmal bestand ich ihn.
Am zehnten November einundvierzig kletterten wir (etwa fünfundzwanzig Mädchen), wie befohlen mit Proviant für zehn Tage versorgt, auf die Ladefläche eines klapprigen Lkw und sangen ein populäres Bürgerkriegslied, wobei wir die Worte ›in den Bürgerkrieg ziehn wir‹ ersetzten durch ›das Vaterland verteidigen wir‹. Von Kamyschino aus, wo wir den Fahneneid leisteten, marschierten wir zu Fuß am linken Wolgaufer entlang bis Kapustin Jar. Dort war ein Reserveregiment stationiert. Zwischen den Tausenden Männern gingen wir dort irgendwie unter. ›Käufer‹ aus verschiedenen Einheiten reisten an, Verstärkung aussuchen. Uns ignorierten sie geflissentlich. Sie gingen die ganze Zeit vorbei ...
Unterwegs hatte ich mich mit Annuschka Rakschenko und Assja Bassina angefreundet. Beide waren ohne jede Ausbildung, und ich hielt meine für unmilitärisch. Darum traten wir, egal, wonach verlangt wurde, immer drei Schritte vor, denn wir glaubten, alles Nötige würden wir uns vor Ort rasch aneignen. Aber wir wurden übergangen.
Doch als das Kommando lautete: ›Kraftfahrer, Traktoristen, Autoschlosser – drei Schritte vor!‹, kam der ›Käufer‹, ein junger Oberleutnant, nicht an uns vorbei. Ich war nicht drei, sondern gleich fünf Schritte vorgetreten, und er blieb stehen.
›Warum nehmen Sie nur Männer? Ich bin auch Traktoristin!‹
Er staunte.
›Das kann nicht sein. Na los – die Funktionsweise eines Traktormotors!‹
›Eins, drei, vier, zwei.‹
›Schon mal Kugellager verschmort?‹
Ich gestand ehrlich, dass ich zwei Pleuellager zunichtegemacht hatte.
›Gut. Ich nehme dich. Für deine Ehrlichkeit.‹ Er nickte und ging weiter.
Meine Freundinnen stellten sich neben mich. Der Oberleutnant tat, als wäre das in Ordnung. Ach, du! Verdammte ...
Als der Kommandeur der Einheit die Neuen inspizierte, fragte er den Oberleutnant: ›Warum hast du diese Mädchen mitgebracht?‹
Er antwortete verlegen, wir hätten ihm leidgetan: Wenn sie irgendwo anders hinkommen, werden sie doch abgeschossen wie Moorhühner.
Der Kommandeur seufzte.
›Gut. Eine in die Küche, eine ins Lager, und die Gebildetste in den Stab, als Schreiber.‹ Nach einer Pause setzte er hinzu: ›Schade, sie sind so hübsch.‹
Am ›gebildetsten‹ war ich – aber Schreiber! Und was tat unsere Schönheit zur Sache? Ich vergaß alle militärische Disziplin und schnaubte empört: ›Wir sind Freiwillige! Wir wollen die Heimat verteidigen. Wir gehen nur in eine Kampfeinheit ...‹
Erstaunlicherweise gab der Oberst sofort nach: ›Zwei in die fliegende Halle, an die Drehmaschine, und die hier, die mit der großen Klappe – zur Motormontage.‹
So begann unser Dienst in der vierundvierzigsten mobilen Kfz- und Panzerreparaturwerkstatt. Wir waren ein Betrieb auf Rädern. In den Autos, die fliegende Werkhallen genannt wurden, standen die Maschinen: Fräs-, Bohr- und Schleifmaschinen, Drehbänke; Kraftwerk, Gießerei, Vulkanisierwerkstatt. An den Maschinen arbeiteten je zwei Personen. Je zwölf Stunden, ohne eine einzige Minute Pause. Zum Mittag, Abendbrot und Frühstück wurde man von seinem zweiten Mann abgelöst. Wenn einer der beiden mit Wachdienst dran war, dann arbeitete der andere eben vierundzwanzig Stunden. Wir arbeiteten in Schnee und Schlamm. Im Bombenhagel. Nun nannte niemand uns mehr hübsch. Trotzdem – mit hübschen Mädchen hatte man im Krieg mehr Mitleid, das stimmt. Es tat allen leid, sie zu begraben ... Oder eine Todesnachricht an die Mutter zu schreiben ... Ach, du! Verdammte ...
Ich träume oft von ihnen ... Träume vom Krieg ... Je älter ich werde, desto häufiger. Im Traum passt in eine Sekunde, was im Leben Jahre dauert. Manchmal weiß ich nicht mehr, was Traum ist und was real ... Ich glaube, es war in Simowniki, ich wollte mich nur für ein paar Stunden hinlegen, da begann ein Bombenangriff. Ach, du! Verdammte ... Ich wollte lieber umkommen, als mir den Genuss von zwei Stunden Schlaf nehmen zu lassen ... Beim Einschlafen dachte ich: Ich will von Mama
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