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Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (German Edition)

Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (German Edition)

Titel: Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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direkt vor Woronesh sei ein Zug zerbombt worden, wir fuhren hin und sahen ... Ja, was sahen wir? Nur noch Hackfleisch ... Ich kann das gar nicht ausdrücken ... O Gott, o Gott! Unser Professor kam als Erster zu sich. Er rief laut: ›Trage!‹ Ich war die Jüngste, gerade erst sechzehn, und alle sahen mich an, ob ich auch nicht in Ohnmacht fiel. Wir liefen die Gleise entlang, durchsuchten die Waggons. Wir fanden niemanden, der auf die Trage zu legen war. Die Waggons brannten, man hörte kein Stöhnen und keine Schreie. Es gab keine Menschen mehr. Ich presste die Hand aufs Herz, die Angst schloss mir die Augen. Zurück im Lazarett, fielen wir einfach um: am Tisch, auf Stühlen, wie es gerade kam, und schliefen ein.
    Nach meiner Schicht ging ich nach Hause. Völlig verweint legte ich mich aufs Bett, und sowie ich die Augen schloss, sah ich wieder alles vor mir ... Mama kam von der Arbeit, dann kam Onkel Mischa. Ich hörte Mama sagen: ›Ich weiß nicht, was mit Lena werden soll. Sieh dir nur an, wie sich ihr Gesicht verändert hat, seit sie im Lazarett arbeitet. Sie ist nicht mehr sie selbst, sie schweigt, redet mit keinem und schreit im Schlaf. Wo ist ihr Lächeln hin und ihr Lachen? Du weißt doch, wie fröhlich sie immer war. Jetzt ist sie nie mehr lustig.‹
    Ich hörte das, und mir liefen die Tränen.
    Als Woronesh dreiundvierzig befreit wurde, ging ich zum kasernierten Wachschutz. Dort waren nur Mädchen. Alle zwischen siebzehn und zwanzig. Jung und hübsch, ich hatte noch nie so viele hübsche Mädchen gesehen. Die Erste, die ich kennenlernte, war Marussja Prochorowa, sie war mit Tanja Fjodorowa befreundet. Sie stammten aus demselben Dorf. Tanja war sehr ernst, liebte Ordnung und Sauberkeit. Marussja tanzte und sang gern. Sie sang freche Scherzverse. Am liebsten aber malte sie sich an, saß stundenlang vorm Spiegel. Tanja schimpfte mit ihr: ›Statt dich aufzuputzen, solltest du lieber deine Uniform bügeln oder dein Bett anständig machen.‹ Dann war da noch Pascha Litawrina, ein tollkühnes Mädchen. Sie war befreundet mit Schura Batischtschewa. Die war schüchtern und bescheiden, die Ruhigste von uns. Und Ljussja Lichatschowa, die drehte sich gern Locken, und dann griff sie zur Gitarre. Sie ging mit der Gitarre schlafen und stand damit auf. Die Älteste von uns war Polina Newerowa, ihr Mann war an der Front gefallen, und sie war immer traurig.
    Wir trugen alle Militäruniform. Als Mama mich zum ersten Mal darin sah, wurde sie ganz weiß.
    ›Du bist jetzt bei der Armee?‹
    Ich beruhigte sie: ›Nicht doch, Mama. Ich hab dir doch gesagt, ich bewache Brücken.‹
    Mama weinte.
    ›Bald ist der Krieg vorbei. Dann ziehst du sofort die Uniform aus.‹
    Das dachte ich auch.
    Zwei Tage, nachdem wir erfahren hatten, dass der Krieg aus ist, wurde eine Versammlung einberufen. Unser Vorgesetzter Genosse Naumow hielt eine Ansprache.
    ›Meine lieben Kämpfer‹, sagte er, ›der Krieg ist aus. Aber gestern kam der Befehl, dass an der Westtrasse Leute vom kasernierten Wachschutz gebraucht werden.‹
    Aus dem Saal rief jemand: ›Aber dort sind doch Bandera-Banden!‹
    Naumow verstummte, dann sagte er: ›Ja, Mädels, da sind Bandera-Banden. Sie kämpfen gegen die Rote Armee. Aber Befehl ist Befehl. Wer fahren möchte, meldet sich bitte beim Chef der Wache. Es gehen nur Freiwillige.‹
    Wir gingen zurück in die Kaserne, legten uns aufs Bett. Es wurde ganz still. Niemand mochte weggehen, so weit weg von zu Hause. Und niemand wollte nach dem Krieg sterben. Am nächsten Tag war wieder eine Versammlung. Ich saß im Präsidium, auf dem Tisch lag ein rotes Tuch. Ich dachte daran, dass ich nun zum letzten Mal an diesem Tisch saß.
    Der Vorgesetzte hielt eine Rede.
    ›Ich wusste, dass du als Erste fahren würdest, Babina. Ihr alle seid prächtige Mädels, dass ihr keine Angst habt. Der Krieg ist aus, ihr könntet heimkehren, aber ihr geht eure Heimat schützen.‹
    Zwei Tage später fuhren wir los. Mit einem Güterzug, auf dem Boden lag Heu, es roch nach Gras.
    Von der Stadt Stry hatte ich vorher noch nie gehört – das war nun unser Einsatzort. Die Stadt gefiel mir nicht – sie war klein und unheimlich, jeden Tag spielte Musik, weil jemand begraben wurde: ein Milizionär, ein Kommunist, ein Komsomolze. Wieder begegneten wir dem Tod. Ich freundete mich mit Galja Korobkina an. Sie wurde dort getötet. Und mit noch einem Mädchen ... Auch sie wurde eines Nachts erstochen ... Dort hörte ich endgültig auf, lustig zu sein und

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