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Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (German Edition)

Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (German Edition)

Titel: Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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Befehl: Binnen vierundzwanzig Stunden vor Ort einfinden. Beim mobilen Feldlazarett siebenhundertdreizehn ...
    Ich erinnere mich, ich erschien im Lazarett in einem schwarzen Tüllkleid und Sandaletten, darüber trug ich den Regenumhang von meinem Mann. Ich erhielt sofort eine Militäruniform, aber ich nahm sie nicht: Alles war mir drei, vier Nummern zu groß. Dem Leiter des Lazaretts wurde gemeldet, dass ich mich der militärischen Disziplin widersetze. Er bestrafte mich nicht – er meinte: Abwarten, in ein paar Tagen zieht sie die Uniform von selber an.
    Nach ein paar Tagen fuhren wir an einen anderen Ort und wurden heftig bombardiert. Wir suchten Deckung in einem Kartoffelacker, und zuvor hatte es geregnet. Können Sie sich vorstellen, wie mein Tüllkleid und meine Sandaletten aussahen? Am nächsten Tag zog ich Soldatenkleidung an. Die komplette Uniform ...
    So begann mein schrecklicher Weg ... Bis Deutschland ...
    In den ersten Januartagen zweiundvierzig kamen wir in das Dorf Afonewka im Gebiet Kursk. Es herrschte strenger Frost. Zwei Schulgebäude waren voll mit Verwundeten: Sie lagen auf Tragen, auf dem Fußboden, auf Stroh. Es gab nicht genug Autos und Benzin, um sie alle ins Hinterland zu bringen. Der Leiter des Lazaretts beschloss, einen Pferdetross aus Afonewka und den umliegenden Dörfern zu organisieren. Am nächsten Morgen traf der Tross ein. Nur Frauen. Auf den Schlitten lagen selbst gewebte Decken, Mäntel, Kissen, auf manchen sogar Federbetten. Noch heute kann ich nicht ohne Tränen daran denken, wie das damals war ... Dieses Bild ... Jede Frau suchte sich einen Verwundeten, machte ihn reisefertig und redete dabei auf ihn ein: ›Mein Sohn, mein Lieber!‹, ›Na, komm, mein Lieber‹, ›Komm, mein Guter du!‹ Jede hatte von zu Hause etwas zu essen mitgebracht, manche sogar warme Kartoffeln. Sie wickelten die Verwundeten in die von zu Hause mitgebrachten Sachen und verstauten sie vorsichtig auf den Schlitten. Noch heute höre ich dieses Gebet, das leise Murmeln der Frauen: ›Na, komm, mein Lieber‹, ›Na, mein Guter ...‹ Schade, ich habe ein richtig schlechtes Gewissen, dass wir diese Frauen damals nicht nach ihren Namen gefragt haben.
    Dann erinnere ich mich noch, wie wir durch das befreite Weißrussland zogen und in den Dörfern überhaupt keine Männer antrafen. Uns empfingen nur Frauen. Als wären überall nur noch Frauen übrig ...«
    Jelena Iwanowna Warjuchina , Krankenschwester

Von der Sprachlosigkeit des Lebens
und der Schönheit der Fantasie
    »Wie soll ich dafür Worte finden? Wie ich geschossen habe, davon kann ich erzählen. Aber davon, wie ich geweint habe, davon nicht. Das bleibt unausgesprochen.
    Sie sind Schriftstellerin. Denken Sie sich selbst etwas aus. Irgendwas Schönes ... Das nicht so schrecklich ist wie das Leben ...«
    Anastassija Iwanowna Medwedkowa , Soldatin, MG -Schützin
    »Dafür reichen meine Worte nicht. Einfache Worte. Darüber muss man in Versen schreiben ... Da braucht es einen Dichter ...«
    Anna Petrowna Kaljagina ,
    Unterfeldwebel, Sanitätsinstrukteurin
    »Manchmal höre ich Musik ... Oder ein Lied ... Eine Frauenstimme ... Und darin finde ich wieder, was ich damals gefühlt habe. Etwas Ähnliches. Aber wenn ich einen Film über den Krieg sehe – das ist alles nicht wahr, oder wenn ich ein Buch darüber lese – alles nicht wahr. Nicht ganz wahr, nicht ganz so, wie es war. Und wenn ich selber darüber rede – dann stimmt es auch nicht. Ist nicht das Wahre. Nicht so schrecklich und nicht so schön. Wissen Sie, wie schön ein Morgen im Krieg sein kann ... Vor dem Gefecht ... Du schaust dich um und weißt: Es könnte dein letzter Morgen sein ... Und die Welt ist so schön ... So schön ...«
    Olga Nikititschna Sabelina , Militärchirurgin
    »Ich? Ich will nicht reden ... Ich will schweigen ...«
    Irina Moissejewna Lepizkaja ,Soldatin, Schützin
    »Ich erinnere mich nur an eins – an die Rufe: ›Sieg!‹ Den ganzen Tag wurde das gerufen ... Sieg! Sieg! Und wir waren glücklich! Glücklich!!«
    Anna Michailowna Perepjolka , Krankenschwester

»Junge Damen! Ein Zugführer bei den
Pionieren überlebt nur zwei Monate ...«
    Wonach frage ich am meisten? Was will ich vor allem verstehen?
    Am meisten frage ich wohl nach dem Tod. Nach ihrem Verhältnis zum Tod – er war ja ständig in ihrer Nähe. Genauso nah wie das Leben. Ich versuche zu verstehen, wie sie inmitten dieses endlosen Sterbens unversehrt bleiben konnten.
    Kann man darüber sprechen? Wenn ja –

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