Der Krieger und der Prinz
nach dem richtigen Wort. Nein, es würde sie nicht zu einer Mörderin machen, aber zu etwas, das nicht viel besser war. Es würde sie zu einem Menschen machen, der vom Schmerz anderer profitierte.
Zutiefst aus dem Gleichgewicht gebracht kehrte Odosse zu ihrem Bett zurück, nahm Aubry auf den Schoß und wiegte ihren Sohn in den Armen, damit er aufhörte zu weinen.
»Es ist praktisch«, erwiderte Brys. Der Kessel pfiff; Brys warf einen Beutel mit etwas Tee hinein und ließ ihn ziehen. Der sanfte Duft von Rosenknospen und Orangen stieg in die Luft und besänftigte Odosses Nerven. »Der Junge war lange genug krank. Es überrascht mich, dass du nicht selbst daran gedacht hast.«
»Es ist nicht rechtens«, beharrte sie, obwohl sie nicht genau wusste, warum.
»Denk einmal nach!«, drängte Brys sie. Er reichte ihr einen Becher. Sie erwartete Tee, aber stattdessen enthielt der Becher einen Schuss von dem bernsteinfarbenen Schnaps, der so scharf war, dass er ihr in der Nase brannte. Odosse nippte zögernd und hustete, als flüssiges Feuer durch ihre Kehle brannte. Aber sie trank auch den Rest, entschlossen, das wenige an Trost anzunehmen, das seine Wärme ihr bot.
Ihr war noch immer keine Erleuchtung gekommen, als sie den letzten Schluck getrunken hatte, auch nicht, als sie nach einer kleinen Mahlzeit aus Tee und altbackenem, leicht zerdrücktem Rosinenkuchen – den letzten Dingen, die sie aus Mathas’ Bäckerei mitgenommen hatte – ihr Lager abbrachen. Mit einem Gefühl vager Erleichterung sah sie zu, wie Brys das Zelt in sich zusammensacken ließ und die dicht gerollte Leinwand wieder auf sein Pferd band; ein Fußmarsch war eine Anstrengung, die sie verstand, und sie hätte dann etwas Zeit allein mit ihren Gedanken.
Odosse verstand oder glaubte zu verstehen, warum Brys wollte, dass sie die Kinder vertauschen sollte. Ein toter Säugling war für ihn weitaus weniger wertvoll als ein lebender. Wenn er den Enkelsohn der de Marsts und den Erben von Bullenmark ablieferte, würde ihm das ein Vermögen einbringen; lieferte er einen kleinen Leichnam ab, machte ihn das bloß zum Narren. Wistans Leichnam war wertlos, selbst für seine Großeltern, es sei denn, sie konnten ihn zusammen mit einem Beweis dafür abliefern, wer die anderen getötet hatte und warum. Sie glaubte nicht, dass Brys diesen Beweis bereits hatte. Seine einzige Hoffnung auf Gewinn bestand darin, ein lebendes Kind abzugeben und sich als sein Retter auszuweisen.
Alles reine Vermutungen, aber sie glaubte nicht, dass sie allzu weit danebenlag. Was sie verwunderte, war die Frage, warum Brys ihre Mithilfe wollte – gewiss würde jeder Säugling im richtigen Alter den gleichen Zweck erfüllen; es brauchte nicht Aubry zu sein; und was sie noch mehr verwunderte, war ihr Zögern, ihn zu unterstützen.
Sie schulterte ihr Bündel und schob Aubry unter ihren Umhang. Es war ein merkwürdiges Gefühl, dass Wistan auf der anderen Seite fehlte; eigenartig unausgewogen und doch auch einfacher, ohne diese Last und diese Sorge zu gehen. Kaum war ihr dieser Gedanke gekommen, da schämte Odosse sich auch schon dafür.
Sie trug Wistan in den Armen, der in seine Decken gewickelt war, allerdings nicht mehr lange. Nur bis sie einen guten Platz für seinen Scheiterhaufen gefunden hätten. Dass sein Gesicht der Kälte so ungeschützt preisgegeben war, spielte keine Rolle mehr. Jetzt konnte ihm nichts mehr wehtun.
Der Schneesturm hatte über Nacht seinen Zorn verausgabt. Gegen Mittag bestand er nur noch aus einigen einsamen, vom Wind verwehten Flocken; bei Einbruch der Dämmerung war der Himmel grau, aber klar. Überall um sie herum war die Welt ein gefrorenes Wunder aus schneebedeckten Hügeln und gebeugten, blattlosen Bäumen, umfangen von Kristallen. Weißbäuchige Krontauben und Schwarzkopfmeisen hockten dicht an dicht in den Zweigen, und daran erkannte Odosse, dass die Kälte fortdauern würde. Wenn sie die Wärme kommen spürten, stoben diese Vögel auseinander und sangen; wenn der Frost heftig war, hockten sie stumm in den Bäumen. Der Sturm war abgeflaut, aber nicht vorüber.
Sie sahen keine anderen Reisenden, und Brys hielt seinen Bogen gespannt und griffbereit, denn niemand außer den Verzweifelten war so weit von jeder Stadt entfernt zu erwarten.
Brys wollte ihr nicht erlauben, einen Scheiterhaufen zu errichten. Das Verbrennen des Leichnams sollte das tote Kind ehren und seine Seele sicher in Celestias Reich schicken – das verdiente jede gesalbte Seele –, aber
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