Der Krieger und der Prinz
erstickende Kälte, die sich von ihrer Brust abwärts ausbreitete. Jeder Schritt kostete größere Anstrengung als der vorangegangene.
Schließlich konnte sie sich nicht mehr länger zum Weitergehen zwingen. Ihre Beine zitterten unbeherrscht. Sie spürte sie nicht, aber sie konnte den Kopf senken und ihre Füße zittern sehen, wenn sie versuchte, gewaltsam einen vor den anderen zu setzen. Sie verstauchte sich den rechten Knöchel und stolperte, fiel auf ein Knie, und sobald sie einmal gestürzt war, konnte sie nicht wieder aufstehen.
»Es tut mir leid«, murmelte Odosse, an niemand Bestimmtes gewandt. Die Worte lagen ihr schwer auf der Zunge.
Unbeholfen zog sie Aubry auf ihren Schoß und legte ihren Körper um ihn, damit sie ihm an Wärme noch geben konnte, wozu sie imstande war. Ihr Sohn war still; sein Weinen hatte ihn erschöpft. Er sah mit großen, ernsten Augen zu ihr auf und schlug mit einer pummeligen Faust nach ihrer Nase. Odosse begann zu weinen, und warme Tränen rannen ihr über die tauben Wangen. Sie konnte anscheinend die Hände nicht mehr rühren und die Tränen wegwischen.
Das Pferd stieß sie mit der Nase an der Schulter an und blies eine Wolke weißen Nebels aus. Odosse konnte auch nicht mehr die Hand ausstrecken und es tätscheln, und nach einem Moment trottete das Tier davon, Brys auf dem Rücken; die Zeltpfosten baumelten an seinen Flanken. Sie hörte die Hufe auf den Steinen klicken und sah zu, wie die unförmige Silhouette zwischen den Bäumen immer kleiner wurde. Dann war sie verschwunden, und Odosse war allein mit ihrem Sohn im Wald, geradeso wie es gewesen war, als Weidenfeld den Tod gefunden hatte.
Zeit verstrich. Stunden vielleicht oder Augenblicke; Odosse wusste es nicht mehr. Ein Fuchs kam aus dem Unterholz gekrochen, sah sie an und verschwand wieder, ein Aufblitzen von kräftigem Rostrot in einer Welt aus Braun und Weiß. Die Taubheit breitete sich in ihrem Körper aus, bis sie nichts mehr spürte und nicht einmal den Kopf zur Straße hin drehen konnte. Ihre Augen waren gleichzeitig trocken und voller Tränen, die sie nicht wegblinzeln konnte. Aubrys Gesicht wurde zu einem verschwommenen, rosigen Fleck. Irgendwie schmerzte das schlimmer als alles andere, dass sie sterben sollte, ohne ihn sehen zu können.
Und dann drang, unerwartet, das Knarren eines Geschirrs an ihre Ohren, und damit das Klappern von Hufen und das Schnauben von Pferden, die rasch durch einen kalten Morgen getrieben wurden. Männerstimmen sprachen über ihren Kopf hinweg in einer rauen, unvertrauten Sprache. Behandschuhte Hände streckten sich ihr entgegen und hoben sie hoch; sie sah sie, konnte sie aber nicht spüren. Jemand nahm ihr Aubry ab, und Odosse war außerstande, durch ihre taub gewordenen Lippen einen Protest zu äußern. Sie hörte ihren Sohn wieder weinen.
Ein Gesicht erschien vor ihr. Sie konnte keine Einzelheiten erkennen; ihre Augen wollten nicht scharf werden. Sie sah nur einen Umhang aus weißem Fell, helles Haar und eine kräftige, dunkle Narbe auf einer Wange.
»Wer bist du?«, fragte der verschwommene Fleck im Wald. »Was ist dir auf der Straße widerfahren, und warum bist du hier?«
Aber Odosse konnte nicht antworten. Sie konnte überhaupt nichts sagen.
18
Albric trat aus seinem Zelt und entdeckte, dass eine Decke aus glitzerndem Weiß über der Welt lag. Das Weiß strahlte wie ein Brautschleier, frisch genäht und unbefleckt von Sünde. Die Luft war schneidend kalt, als er Atem holte, und doch war selbst das ein kleiner Segen: Jeder Atemzug schien ein gewisses Maß an Reinheit mit sich zu bringen.
Es war schon richtig, dass sein letzter Morgen so eisig und klar sein sollte. Tatsächlich war es ein Geschenk: die letzte Gnade einer Göttin, der er Schande bereitet hatte. Er rechnete nicht damit, diese Wintersonne untergehen zu sehen.
Albric aß ein leichtes Mahl und kostete jeden Bissen seines letzten Frühstücks aus. Er erhitzte Wasser für Bitterkiefertee, wusch sich das Gesicht und genoss auch diese kleinen Rituale. Schließlich gestattete er sich ein Sonnenaufgangsgebet, allein gesprochen, aber deswegen nicht weniger inbrünstig, zum ersten und zum letzten Mal auf dieser Reise.
Dann verließ er sein schneebedecktes Lager und ging zum Waldrand hinüber, und sein perfekter Morgen zerbrach in tausend Stücke.
Eine einzelne Spur kam von der umfriedeten Stadt weit unterhalb des Waldes: eine lange Linie, die direkt von Tarnebrück zu dem Wald führte, in dem Severine wartete. Der
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