Der Krieger und der Prinz
Mensch oder Tier, Freund oder Feind. Das ist nur einer ihrer Zauber. Sie können die Knochen von Opfern in ihren Körpern zerschmettern, ohne Blut zu vergießen oder sie berühren zu müssen; sie können aus der Ferne quälenden Schmerz zufügen. Sir Solenar sagte, er habe beobachtet, wie einer von ihnen auf dem Schlachtfeld Pfeile mit Hilfe von Schatten ablenkte, statt sie mit Sonnenlicht zu verbrennen, wie wir es tun. Sir Isleyn sagte, sie hätten einen Inquisitor nach Asenfall geschickt, und dieser Inquisitor habe ohne ein Wort die tiefsten Ängste und Wahrheiten aus einem Mann herausholen können.«
Sie können Pfeile aufhalten? Ein leiser, eiskalter Zweifel streifte Bitharn. Sie besaß nur wenig Talent mit etwas, das kein Messer oder Bogen war. »Was sonst noch?«
Sie spürte, dass Kelland zögerte, bevor er antwortete. »Seelenbindung«, gab er schließlich zur Antwort.
»Seelenbindung?«
»Sie fangen die Seelen von Menschen in Leichen. Manchmal in ihren eigenen, manchmal in denen anderer. In Ardashir und Kai Amur haben die Zhardianer das zu einer hohen Kunst entwickelt. Viele von ihnen entscheiden sich dafür, auf der Suche nach Unsterblichkeit ihre eigenen sterblichen Körper zu töten und zu bewahren. Die Kliastaner … tun es anderen an, teilweise als eine Form der Folter und teilweise zur Herstellung von Kriegswaffen. Es ist etwas Hässliches.«
»Das kann ich mir vorstellen«, murmelte Bitharn. Wie musste es sich anfühlen, in seinem eigenen verwesenden Körper gefangen zu sein? Konnten sie das Faulen ihres Fleisches spüren? Den Ekel in den Zügen jener sehen, die sie einst geliebt hatten? Sie hoffte, dass es nicht so war. Sie hoffte, dass sie es niemals herausfinden würde. »Das tun sie also?«
Er nickte. »Sie haben die Toten bei Thelyandfurt in Sklaven verwandelt. Männer mussten im Schlamm gegen ihre eigenen toten Brüder kämpfen. Unermüdlich, unbarmherzig und nimmer endend … Aber zumindest haben wir nie vergessen, wie man sie vernichtet.«
Ein schwacher Trost, aber immerhin etwas. Bitharn ließ ihren Blick durch den windzerzausten Wald streifen. Die weißen Steine der Straße der Flusskönige schimmerten sanft in der Dunkelheit. Der Nachthimmel war jetzt bewölkt, und weder Mond noch Sterne waren zu sehen, aber die Straße leuchtete in ihrem eigenen stillen Licht, ein glänzendes Band im dunklen Wald. Sie konnte sie nur durch die Bäume erkennen.
»Sie ist schön«, sagte Bitharn, ohne nachzudenken. In Calantyr gab es nichts dergleichen. Dort hatten sie Magie, einige davon großartig, aber ihr Königreich war ein junges Land und noch nicht von einer Geschichte voller Kummer und Leid belastet, wie es diese Straße sein musste.
Kelland folgte ihrem Blick. »Athra lumenos«, sagte er, und das Hochrhaellische ging ihm so glatt über die Zunge wie eine Muttersprache. Er sprach im Tonfall eines Lehrers der Kuppel. Das hatte er sich angewöhnt, als er historische Berichte rezitiert hatte. Manchmal ärgerte sie sich darüber, aber heute Nacht fand Bitharn es beruhigend. »Stein des Lichtes. Die Ritter der Sonne haben ihn gebrochen oder geschaffen, und Reisende haben ihn vor langer Zeit überall verteilt, als alle diese kleinen Reiche Teil Rhaelyands waren. Seither haben wir diese Kunst vergessen, oder vielleicht sind unsere Gebete nicht mehr so mächtig, aber die alten Steine bergen noch immer ihre Magie. Sie haben die kaiserlichen Straßen mit Athra lumenos erbaut, damit sie während der ganzen Nacht leuchteten und Reisende sich in der Dunkelheit niemals verirrten. Rhaelyand ist untergegangen, aber die Straße leuchtet weiter. Noch immer bauen Menschen ihre Städte und Burgen entlang der Straße. Durch ihr heiliges Geschenk lenken die Götter noch immer die Geschicke.«
»Es ist ein Wunder, dass niemand den Stein stiehlt.«
»Er ist nutzlos, wenn man ihn seiner Aufgabe entfremdet.« Sie hörte sein Lächeln, auch wenn sie es nicht sah. »Brich ein Stück von der Straße ab, und es verliert sein Licht. Athra lumenos wurde zum Wohl der Allgemeinheit geschaffen; es wird den Habgierigen nicht zufriedenstellen.«
»Oh.« Bitharn fragte sich, wie viele Menschen es versucht hatten und wie enttäuscht sie gewesen waren, nachdem sie ein wenig vom Licht der Götter für sich selbst abgeschlagen hatten und feststellen mussten, dass es zwischen ihren Fingern erlosch. War es so egoistisch, einen Bruchteil Schönheit für sich selbst haben zu wollen? War das eine so schwerwiegende Sünde? Sie lauschte
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