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Der Kristallpalast: Ein Steampunk-Roman (German Edition)

Der Kristallpalast: Ein Steampunk-Roman (German Edition)

Titel: Der Kristallpalast: Ein Steampunk-Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Plaschka , Matthias Mösch , Alexander Flory
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untergliedert in ein kompliziertes Muster von Streben, die Kreise, Sektoren und Sekanten andeuteten. Darunter schwebte, gepfählt wie eine riesenhafte Traube auf einem Käsespieß, eine bizarre Sphäre aus offenen Metallringen, aus der wiederum mehrere Streben wie ein Strauß kopfüber montierter Blitzableiter ragten, so dass das Mädchen sich mehrmals ducken musste, wenn es unter der Sphäre hindurchwollte. Ich war zuversichtlich, einem normalen Besucher des Palasts wären diese Konstruktion und der schma-le Laufsteg, über den man sie erreichte, gar nicht aufgefallen. Ich hatte selbst eine Weile suchen müssen, bis ich den Weg nach oben entdeckt hatte, und der Blickfang im Zentrum des Palasts waren die Bäume und der gläserne Brunnen. Aber je länger man die Konstruktion betrachtete, desto eigenartiger schien sie.
    Kleine Brücken wie die, auf der das Mädchen stand, zogen sich in luftiger Höhe durch den gesamten Palast, so dass man jede Stelle erreichen und nötigenfalls ausbessern konnte. Dem Gespräch nach zu urteilen, das ich zuvor zwischen zwei Arbeitern belauscht hatte, war man selbst überrascht gewesen, dass der Palast den heutigen Hagelschauer unbeschadet überstanden hatte. Ich für meinen Teil war überrascht gewesen, dass er überhaupt stattgefunden hatte und nicht nur Teil meiner Einbildung gewesen war. Ich hatte mich mittlerweile gut an die Wirkung des Laudanums gewöhnt, und meine Gedanken waren wieder halbwegs klar; doch immer noch misstraute ich dem fernen Pfeifen in meinem Ohr, wie nach einem Hörsturz, das hier im Palast wieder stärker zu werden begann und spürte wie schon bei meinen vorigen Ausflügen den majestätischen Ruf des Palasts; er war ein Sammelpunkt der Macht, und ihn zu durchwandern war, wie es für einen gläubigen Christenmenschen sein muss, wenn er Fuß in den Petersdom setzt, oder – ein Bild, das meinem wissenschaftlichen Geist eher entsprach – das versunkene Atlantis zu betreten.
    Vorbei an Leuchtturmlinsen und dem weltgrößten Kohlestück, einem Einsatzwagen der kanadischen Feuerwehr und dem enormen Elefanten hatte ich mich zunächst in den Garten in der Mitte des Palasts geschlichen. Laternen brannten am Rande des friedfertig schimmernden Brunnens, und im Schatten der großen Ulme hatte ich gewartet, bis der Wachmann auf seiner Patrouille vorüber war. Dann hatte sich mein Blick einer Eingebung folgend nach oben gewandt. Die Sterne waren für ein paar Sekunden hervorgekommen, und da hatte ich sie zum ersten Mal richtig gesehen. An der Art, wie sie dastand, den Kopf hoch erhoben, erkannte ich, dass sie dasselbe eigenartige Fernweh verspürte wie ich.
    Langsam und so lautlos wie möglich hatte ich meinen Aufstieg begonnen, eine Sprossenleiter an der gläsernen Außenwand empor, den Seesack mit den Artefakten über meiner Schulter, so dass ich mir wie ein Insekt vorkam, das mit seiner Beute eine Fensterscheibe hochkriecht. Ich erreichte das Obergeschoss, dann die Traverse, auf der ich nun saß. Kletterte ich noch höher, würde sie mich zweifelsfrei bemerken. Ich fragte mich, was sie vorhatte; sie schien es selbst nicht recht zu wissen, denn sie schritt lautlos mal hierhin, mal dorthin, vertiefte sich in das Muster der Konstruktion, prüfte die Gestelle wie ein Messer auf seine Schärfe und warf immer wieder suchende Blicke nach draußen, nach oben.
    Wie hatte ihr alter Kumpan, verflucht sollte er sein, mich genannt? Einen Talentträger. So unvorteilhaft unsere Unterhaltung verlaufen war, ein wenig hatte mir die Bezeichnung auch geschmeichelt, denn zweifelsohne war ich mit Talenten wahrhaft gesegnet, und damit meine ich nicht nur die Geschenke, die die Heeren mir gaben, sondern auch eine geistige Komponente, eine gewisse Disposition, und mir drängte sich in diesen Momenten der Gedanke auf, dass es sich mit ihr vielleicht ähnlich verhielt. Auch sie vernahm den Ruf, auch sie war allein und nur auf sich selbst gestellt.
    Vielleicht hatte ich auch nur zu lange keine Frau mehr gehabt, schließlich war mein Stelldichein mit Betty nun auch schon wieder zwei Nächte her und bereits damals von zahlreichen Kompromissen getrübt gewesen. Wie viel reizvoller schien da doch der Wunsch nach Vereinigung mit meiner schönen Feindin, während über uns die Sterne und unter uns die Wachmänner kreisten!
    Welaan, ich hatte nicht die ganze Nacht Zeit, es war spät genug, und wenn ich noch länger hier über der Welt thronte wie ein Ausguck im Krähennest, würde ich noch mehr zu

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