Der Kristallpalast: Ein Steampunk-Roman (German Edition)
phantasieren beginnen. Also setzte ich hörbar den Fuß auf, erhob mich und kletterte gemächlich die letzten Meter zu ihr hoch.
Sie bemerkte mich sofort, und ich war darauf gefasst, zur Not schnell zur Seite, ja wenn gar nichts half in die rettenden Zweige der hohen Ulme zu springen, doch wie ich vermutet hatte, führte sie keine Fernkampfwaffen mit sich. Sie zog nur ihr Schwert, tänzelte ein paar Schritte zurück, und wartete, bis ich sie erreicht hatte.
Grinsend schlenderte ich auf sie zu, den Sack über der Schulter, die Finger gespreizt, so dass sie sehen konnte, dass ich keine Waffen trug.
„Guten Abend“, sagte ich. Ein paar Meter vor ihr hielt ich an. Ich wusste, sie hatte mich erkannt. Ich dachte an unser erstes Zusammentreffen und nutzte die Gelegenheit, meinen Blick an ihr zu weiden. Ich entdeckte den kleinen schwarzen Stein, den sie ziemlich offensichtlich um den Hals trug. Ich fragte mich, was er mit ihr tat. Wenn man Kristalle trug, war man manchmal bis zu einem gewissen Maß geschützt vor Beeinflussungen, aber man wusste ja nie. Vielleicht konnte sie auch einfach nur schnell damit laufen, was sie ja schon unter Beweis gestellt hatte.
„Was wollen Sie?“, fragte sie und kam mit ausgestreckter Klinge auf mich zu.
„Dasselbe wie Sie, nehme ich an“, antwortete ich.
„Was wäre das?“
„Sie müssen mich nicht mit Ihrer Waffe bedrohen, Verehrteste. Sehen Sie, wenn ich das wollte, könnte ich das Gleiche tun.“
„Sie tragen aber keine Waffe“, stellte sie fest. „Zumindest keine, die ich sehe.“
„Ach, kommen Sie. Haben Sie unseren kleinen Wettstreit schon vergessen? Ich trage alle meine Waffen in diesem Armreif.“ Ich streckte den Arm aus, das Handgelenk nach oben. Sie warf einen skeptischen Blick darauf, als versuche sie zu erraten, ob ich bluffte. Welnu , es war schwer, jemanden mit einer Waffe zu bedrohen, die nicht aussah wie eine solche, aber sie wusste, wozu ich in der Lage war. Dass die Pistole nur noch unzuverlässig funktionierte und bestenfalls noch zwei oder drei Ladungen besaß, musste sie ja nicht wissen.
Als ich keine Anstalten machte, sie anzugreifen, kam sie einen Schritt näher. Die Klinge ruhte einen Meter vor mir in der Luft.
„Warum sind Sie hier?“, fragte sie.
Erkannte sie denn nicht, dass wir gemeinsame Ziele verfolgten?
„Ich dachte, wir finden heraus, wozu diese hier dienen“, meinte ich, nahm langsam den Sack von der Schulter und holte vorsichtig die beiden Artefakte heraus. Ah, ich sah die Sonne in ihren Augen aufgehen, als sie der beiden Behältnisse gewahr wurde, die einander fast glichen wie ein Ei dem anderen, fast, aber nicht völlig, und die ich ihr darbot, doch wegzog, als sie danach zu greifen versuchte.
„Geben Sie sie mir“, verlangte sie und legte die Klinge an meinen Hals. Ein höchst belebender Schauder befiel mich, als ich das kalte Metall auf meiner Haut spürte.
„Papperlapapp“, entgegnete ich und trat stattdessen auf das große Rundfenster und die auf Kopfhöhe darunter hängende Kugel zu. Sie machte ebenfalls einen Schritt zurück, und das Gefühl an meinem Hals änderte sich; ich glaubte, sie hatte mich geschnitten, aber die Klinge war so scharf, dass ich es kaum spürte.
„Meine Dame“, erläuterte ich, „Sie haben die Wahl. Sie können mich jetzt enthaupten – was, wie ich Ihnen kaum in Erinnerung rufen muss, die Ausschüttung mehrerer Liter Blut zur Folge hätte, die wiederum aus dieser Höhe bequem die gesamte schweizerische Ausstellung dort unten besudeln würden – stellen Sie sich nur die Entrüstung der Eidgenossen in der morgigen Abendzeitung vor! –, oder Sie lassen mich diese letzten drei Meter hinüber zum Fenster gehen, und wir erkunden gemeinsam, was für eine Funktion die Artefakte haben.“
Ich stand einen Augenblick lang still und zählte leise bis fünf. Schließlich ließ der Druck auf meinem Hals nach. Ich wischte mir mit der Hand über die Stelle und sog scharf die Luft ein – potverblommekes , ich blutete tatsächlich –, dann ging ich an ihr vorbei.
Wenn man direkt unter dem Fenster stand, kam man sich vor wie in einer netten kleinen Sternwarte. Wieder rissen die Wolken auf, und ich pfiff leise durch die Zähne. Ich verstand, was sie hier so lange gehalten hatte.
„Sie haben Sir Malcolm ermordet“, sagte sie, wie um die Stimmung mutwillig zu stören.
„Ja, und irgendein wahnsinniger Schläger hat meinen Kontaktmann auf dem Gewissen“, erwiderte ich, während ich die eisernen Ringe
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