Der Kristallpalast: Ein Steampunk-Roman (German Edition)
beträchtlich, und ich sah Sterne. Das Licht! Ich musste schleunigst einen Weg finden, meinen Verstand vor den schwarzen Künsten der Heeren zu schützen, denn offensichtlich hatten sie einen Weg gefunden, die Nervenbahnen in meinem Kopf anzusprechen, oder aber der Palast um mich wirkte als eine Art Verstärker. Das Pfeifen fing wieder an und steigerte sich schneller als zuvor. Würde dieser Alptraum denn nie enden?
Teleelektrischer Transfer in zehn, neun ...
Ich dachte daran, wie geborgen ich mich während meiner Reise durch den Themsetunnel gefühlt hatte. Zwar konnte ich mich gegenwärtig schwerlich unter die Erde zurückziehen, aber vielleicht konnte ich meinen Geist unter einer anderen Schutzschicht verbergen. Hastig holte ich die Laudanumflasche hervor und trank einen tiefen Schluck.
Der Effekt war erstaunlich. Die Schmerzen waren auf einen Schlag verschwunden, die Stimme in meinen Kopf verstummt; alle meine Glieder wurden schlaff, und die Pracht des Palasts bot sich mir in nie geahnter Schönheit dar.
Ich stand in einem Wäldchen exotischer Pflanzen, die die Luft mit ihren wilden Düften erfüllten. Zwischen den Pflanzen waren zauberhafte Lichtchen versteckt, und direkt vor mir befand sich eine Umzäunung aus starkem Tropenholz, hinter der eigenartige Gerüche und Laute lagen. Da war eine Tür im Zaun, und ich dachte, ich könnte mich ja dahinter verstecken.
Ich öffnete die Tür, doch im selben Moment überrannte mich ein monströses Geschöpf, das mit einem weiten Satz seiner unförmigen Beine über mich hinwegsprang. Bestürzt rollte ich mich zur Seite. Da entdeckte ich den Wachmann, der stolpernd die unterste Ebene erreicht hatte, sich nun die Ärmel hochkrempelte und für den Kampf gegen das unheimliche Wesen wappnete, das ich mittlerweile mit ziemlicher Sicherheit für ein leibhaftiges Känguru hielt. Doch das war noch nicht alles – der ganze Wald um uns, registrierte ich überrascht, war voller Monstren! Ich fragte mich, was der Kerl mit meiner schönen Inderin angestellt hatte.
Stöhnend setzte ich mich auf. Das mit dem Versteck würde so nichts werden. Ich musste drastischere Schritte ergreifen.
Meine harte Ausbildung in Sumatra kam mir zugute, als ich auf dem Bauch durch das Gras der urweltlichen Kulisse robbte, immer in der Deckung der grotesken Kreaturen, die diesen Abschnitt des Palasts erobert hatten. Die erste war ein froschköpfiges Schwein mit Zähnen, so groß wie mein Unterarm. Darüber erhob sich eine nashörnige Donnerechse mit einem so verständnislosen Gesichtsausdruck, als habe sie gerade von ihrem eigenen Aussterben erfahren. Schließlich erreichte ich die Klauen eines furchterregenden, lindgrünen Drachen, gedrungen, kraftstrotzend und größer als eine Lokomotive, der einen ansehnlichen Wald junger Baumfarne beherrschte.
Hinter mir hörte ich Faustschläge und Ächzen. Interessiert hob ich den Kopf, konnte aber nichts erkennen.
„Kommen Sie raus!“, ertönte die Stimme des Wachmanns. Offensichtlich hatte er das Känguru erledigt und suchte nun nach mir.
Hastig duckte ich mich wieder und durchwühlte meinen Seesack. So vorsichtig wie möglich holte ich das Pyroglycerin aus seiner schützenden Hülle. Mein Herz raste. Wie ich befürchtet hatte, hatte es sich mittlerweile verflüssigt.
„Keinen Schritt näher!“, rief ich, ohne den Blick auch nur eine Sekunde von dem Fläschchen zu wenden, und stellte es vor mich. „Ich bin bewaffnet!“ Dann nahm ich kurz entschlossen die Schießbaumwolle und stopfte sie dem Drachen zwischen die Klauen. Es brauchte schon die Finger eines Croupiers und den Mut eines Falschspielers, um aus dieser Lage wieder zu entkommen.
„Ich auch“, meinte der Wachmann und schlug sich bekräftigend mit der Faust in die Hand. Es klang, als sei er in der Nähe des Tiergeheges.
Ich nahm die Rolle Kupferdraht aus dem Sack und wickelte sie hurtig ab. Dann teilte ich den Draht mit dem Messer in zwei Hälften und steckte beide mit leichtem Abstand in die Schießbaumwolle.
„Ja, aber wissen Sie, ich kann Sie erschießen“, warf ich ein, nahm das Fläschchen Pyroglycerin, drehte sachte den Korken heraus und bettete es in sein warmes Nest, das es alsbald zu tränken begann. Wenn mich meine chemischen Kenntnisse nicht täuschten, sollte das eine sehr interessante Mischung ergeben.
„Warum tun Sie’s dann nicht?“, kam es zurück, diesmal aus einer anderen Richtung.
„Oh, das werde ich“, versicherte ich ihm, nahm meinen Seesack und zog mich
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