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Der Kristallpalast: Ein Steampunk-Roman (German Edition)

Der Kristallpalast: Ein Steampunk-Roman (German Edition)

Titel: Der Kristallpalast: Ein Steampunk-Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Plaschka , Matthias Mösch , Alexander Flory
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eine Grabkammer. Eine furchtbare Falle.
    Meine Füße stießen gegen einen bis zur Unkenntlichkeit verbrannten Brustkorb. Ich versuchte, meinen Fuß zu befreien, und das kohlschwarze Gerippe zerfiel zu Staub. Mein Blick blieb an einem Schmuckstück haften, das der Tote um den Hals getragen hatte: ein kleiner, schwarzer Stein an einer Eisenkette.
    Ich hob ihn auf und legte mir die Kette einem unbestimmten Impuls folgend um den Hals.
    Wie soll ich das Gefühl beschreiben, das mich überwältigte? Es war, als zeigten alle Dinge ihr wahres Gesicht, wie wenn sich im Theater der Vorhang hebt und dahinter das Bildnis einer ganzen Welt entsteht. Ich las in dieser Welt wie in einem Buch. Ich sah die Leichen und fühlte den Schmerz, den sie in ihren letzten Momenten empfunden hatten, nicht über ihren Tod, sondern über ihr Versagen. Ich verstand, was es mit den Kristallen auf sich hatte und erkannte, dass sie wie Flammen waren, Teile eines einzigen, großen Leuchtfeuers, das den Göttern den Weg hätte weisen sollen. Dieser Raum mit seiner Kuppel war ausersehen gewesen, den Göttern als Gefäß zu dienen, auf dass sie es erfüllten und zum Überlaufen brächten, bis der Dammbruch nicht mehr aufzuhalten wäre und sie sich in die ganze Welt ergossen! Freude erfüllte mich bei dem Gedanken, obgleich er mir doch zuwider war, so wie man in einem Fiebertraum gegen seine eigene Überzeugung handelte, und über einer schauderhaften Tat nicht mehr als das stumpfe Interesse eines Irrsinnigen empfindet.
    Ich begann, die Kristalle zu sammeln – alle, derer ich habhaft werden konnte, da sie doch die Flamme der Götter in sich trugen und mir in diesen Minuten das Wertvollste auf der Welt erschienen.
    Dann erkannte ich den Wahn, der mich befallen hatte, und hielt ein. Ich betrachtete meine Männer und durchschaute auch sie: Halls Habgier, die mit jedem Tag größer wurde, und O’Lannigans blinde Verehrung, die er dem Leutnant entgegenbrachte. Beide beachteten mich nicht, sondern stapften ihrerseits durch die Asche und pickten auf, was ihnen wertvoll erschien.
    Ich dachte daran, wie Hall Willems’ Grab geöffnet und etwas an sich genommen hatte. Konnte es sein, dass er mich seit jenem Tag betrog, ja mir immer einen Schritt voraus gewesen war?
    Misstrauen packte mich, ich sah ihn an, sah in ihn und begriff, dass es sich genau so verhielt: Auch er besaß einen jener schwarzen Steine, wie ich nun einen um den Hals trug – Willems’ Stein – die ganze Zeit schon! Was hatte Cray gesagt? Es konnte ein Stein sein, aber auch eine Tugend oder eine Kraft – ich wollte das Wort an Hall richten, doch da sah er mich an, und in seinen Augen brannte ein dunkles Feuer, wie ich es nie zuvor gesehen hatte, und ich verstand, weshalb die Bewohner der Stadt den Priestern keinen Widerstand entgegengesetzt hatten, als sie von ihnen zur Schlachtbank getrieben worden waren: Diesem Feuer war nicht zu widerstehen.
    Ich glaube, nur der Stein um meinen eigenen Hals rettete mich in diesem Augenblick. Ich spürte Halls Macht und er meine. Ich fragte mich, ob es für Vanderbilt so gewesen war, als er Willems erschoss.
    Langsam hob ich die Muskete und legte auf ihn an.
    Da sprach Hall. Er sprach nur ein Wort – ein Wort wie ein Donnerschlag –, doch es war mir plötzlich unmöglich, die Waffe weiter auf ihn zu richten. Dann gab er O’Lannigan einen Wink, und mit ausdruckslosem Gesicht griff der Sergeant nach seiner Muskete.
    Ich wusste, er würde mich ohne zu zögern ermorden.
    So riss ich den Lauf meiner Waffe herum und schoss. Ich traf den Sergeant an der Schulter, in der Nähe des Halses, und er ging in die Knie, während der Donner des Schusses durch das Gewölbe rollte. Dann fing er sich wieder – und ich sah, dass auch er einen der schwarzen Steine um den Hals trug ...
    Ich wich ein paar Schritte zurück. Dann drehte ich mich um und rannte um mein Leben, und einen Atemzug lang war ich sicher, dass O’Lannigan oder Hall mir in den Rücken schießen würden und ich als letztes Geräusch auf dieser Welt den Knall ihrer Musketen im Bronzebauch des Tempels hören würde. Doch das einzige Geräusch, das erklang, war das dämonische Lachen Halls, der meine Feigheit verspottete.
    Ich floh durch das zweiflüglige Tor, als mir ein rettender Gedanke kam. Ich blieb stehen, packte das Rad in der Wand und drehte es mit aller Kraft. Die Männer bemerkten, was ich vorhatte, und eine Kugel pfiff an mir vorbei und verletzte mich an der Wange – im nächsten Augenblick aber

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