Der Kristallpalast: Ein Steampunk-Roman (German Edition)
hieß und mit lauter Stimme verkündete, es sei ein schrecklicher Irrtum gewesen, die Priester zu töten und den Tempel zu schänden und geradezu zwingend, ihr Werk zu vollenden und wenn nötig einen neuen Tempel zu bauen; da erschien uns das alles absolut einleuchtend, und wir bejubelten seinen Vorschlag wie das Volk Israel das Goldene Kalb.
Erst als der neue Tag anbrach und Schmerzen und Übelkeit und Scham uns in allen Gliedern steckten, kamen wir nach und nach wieder zu Sinnen. Doch die Welt, in die wir zurückkehrten, schien uns unbeschreiblich freudlos, und im grauen Licht des Morgens saßen wir still in der großen Halle und bereiteten uns ein spärliches Mahl. Danach wies ich Leutnant Druyts an, alle Amulette einzusammeln, auf dass ich sie in Verwahrung nehmen könne. Er tat, wie ihm geheißen, und mit grimmigen Gesichtern händigten ihm die Männer ihre teuren Schätze aus. Ich wusste da schon, dass es dabei nicht bleiben würde; wir hatten den Wahnsinn bis zur Neige gekostet, und die Gier nach immer neuem Wahnsinn war jedem von uns deutlich anzusehen.
Es dauerte nicht lange, da trat Willems vor mich. Ich fragte, was er wolle, und einen kurzen Augenblick lang schien er es selbst nicht zu wissen, wie er mit bebenden Lippen und aufgerissenen Augen an mir vorbei ins Leere starrte. Dann kam er wieder zu sich und sagte, es sei nicht rechtens, dass ich alle jener wunderbaren Amulette für mich allein fordere. Ich sagte ihm, dem sei keineswegs so und ich sei im Gegenteil zu der Überzeugung gelangt, dass die Amulette zu gefährlich wären, um von uns oder irgendjemandem getragen zu werden; ob er denn schon vergessen habe, wie sie uns gestern die Sinne verwirrt und uns glauben gemacht hatten, dass wir lebende Götter seien. Doch er ließ sich nicht abschütteln und beharrte auf seinem vermeintlichen Recht, diese zauberischen schwarzen Steine zu tragen. Dann trat Lakerveld neben ihn und dann zu meinem Entsetzen auch Fleerackers, schließlich sogar Druyts.
Fleerackers gestand, wir seien gestern in unserem Eifer sicherlich zu weit gegangen und schlug darum vor, dass bis auf weiteres jeder Mann nur ein Amulett zur selben Zeit tragen solle, worüber nach kurzem Streit Einigkeit unter den Männern bestand. Er habe die Schriften des Tempels studiert, sagte er, und sei zu der Überzeugung gelangt, es handle sich bei den Amuletten um heilige Steine, wie man sie einst auch im alten Indien verehrte. Ihre Benutzung und ihre Gaben, so Fleerackers, seien jenen klaren Geistes und reiner Tugendhaftigkeit vorbehalten – und wer sonst, wenn nicht wir Männer des Westens, brächte das Recht mit sich, die vergessenen Geheimnisse des Ostens zu lüften und zu unserem Vorteil zu gebrauchen? Wäre es nicht gegen unseren Auftrag, ein Verbrechen an der Wissenschaft und der notleidenden Republik, diese uns dargebotenen Schätze auszuschlagen?
Fleerackers, der abgefeimte Meuterer! Wie hatte ich ihn unterschätzt!
Schließlich gab ich mich geschlagen, denn alle standen gegen mich, und was hätte ich tun sollen? Ich konnte schwerlich meine eigenen Männer niederschießen, um dann alleine den Weg aus dieser gottlosen Hölle nach Hause zu suchen. So nahm sich denn wieder jeder der Männer eines der Amulette; dann machten wir uns daran, Behälter für den Abtransport der Schätze zu zimmern. In aller Eile trugen wir zusammen, was wir an Götzenbildern, Gold und Artefakten aller Art im Tempel fanden, und natürlich nahmen wir auch große Mengen Kristalle mit uns. Es galt, diesem Ort so schnell als möglich den Rücken zu kehren, bevor er uns verschlänge oder wir uns gegenseitig verschlängen.
So fasste ich denn meinen Plan.
Ein letztes Mal kehrte ich in die Halle aus Metall zurück, denn ich glaubte mich trotz meines gestrigen Zustands der Verblendung an etwas zu entsinnen; etwas, was mit den Resten des zerstörten, in die Nacht starrenden Auges zu tun hatte. Eine Weile studierte ich die verbogenen Streben und Ringe, ohne recht zu wissen, was ich suchte, dann fand ich es in der Asche, unter dem verbrannten Leichnam eines Priesters, der es noch im Tod mit seiner schwarzen Klauenhand zum Schutze vor den Flammen an die Brust zu drücken schien: ein steinernes, doldenförmiges Gefäß, worin sich, wie ich mich überzeugte, einer der kreisenden Kristalle befand, die ich tags zuvor unter der Kuppel gesehen, größer und prächtiger als alle anderen und machtvoller ohne Frage; ein Meisterstein. Ich nahm das Behältnis an mich, denn ich fühlte,
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