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Der Kristallpalast: Ein Steampunk-Roman (German Edition)

Der Kristallpalast: Ein Steampunk-Roman (German Edition)

Titel: Der Kristallpalast: Ein Steampunk-Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Plaschka , Matthias Mösch , Alexander Flory
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Vorabend. Das hieß, ich würde wieder etwas ... Zweckdienliches unter der von mir verlangten Maskerade tragen müssen. Es war verrückt, fast schon krankhaft, was die Engländer ihren Körpern antaten. Viele Männer und die meisten Frauen würden leben und sterben, ohne je zu erfahren, wie so ein menschlicher Körper eigentlich aussah und was man alles damit anstellen konnte.
    Ich dachte an die halbnackten Körper auf den Straßen meiner Kindheit. Ich dachte an die Tempeltänzerinnen, wie sie die Geschichten der Götter mit ihren Körpern nacherzählten. Ich dachte an die eindeutigen Illustrationen in manchen heiligen Texten und an die nicht minder beeindruckenden Leistungen jener heiligen Männer, die tagelang auf einem Bein balancierten, sich wanden und krümmten und ihrem Körper befehlen konnten, keinen Schmerz zu empfinden. Auch Bailey hatte diese Dinge gesehen und irgendwann beschlossen, dass es sich in London am besten leben ließ, wenn man sein Wissen für sich behielt und die anderen an der Nase herumführte, und dazu brauchte er mich – denn ich gehörte nicht in diese Welt, obwohl ich sie und ihre Bewohner mittlerweile sehr gut verstand. Man durfte sie nicht beleidigen, hatte er einmal gesagt, aber man sollte sie auch nicht allzu ernst nehmen; fast hatte er ein wenig bekümmert gewirkt dabei. Manchmal glaubte ich, Lord Bailey war ein sehr einsamer Mann.
    Zu guter Letzt hatte ich die Krinoline angelegt und konnte meinen Rock darüber breiten. Ich passte nun kaum noch durchs Treppenhaus. Bailey stand schon unten im Flur und reichte mir die Hand. Als wir zur Vordertür hinausgingen, sah ich dort einen eleganten Landauer mit zurückgeklapptem Verdeck. Bailey zog seinen weißen Zylinder und grüßte einige Passanten; höchstwahrscheinlich sank mein Ansehen im Viertel gerade auf einen neuen Tiefstand. Dann hielt er mir die Tür auf und half mir hinein. „Waterloo Bridge“, wies er den Kutscher an. „Dann Richtung West End.“
    Die Kutsche ratterte los, und eine frische Brise zupfte an unseren Kopfbedeckungen. Es herrschte ein typisch unberechenbares Aprilwetter in London, aber ich genoss den Wind, denn er vertrieb die Gerüche, die uns vom Fluss entgegenschlugen. Die Straßen waren voller Menschen, die sich zwischen den rußigen Ziegelsteinbauten drängten. Da waren die Händler mit ihren Karren, Männer mit Schildern an Brust und Rücken, die sie zu lebenden Werbetafeln machten, und alte Frauen mit Gemüse und Kräutern in ihren Körben und Gin im Atem. Am Straßenrand saßen die Krüppel und Bettler, und in den Höfen spielten Kinder ohne Schuhe.
    „Eines Tages“, erklärte Bailey und gestikulierte unbestimmt mit der Hand, „müssen Sie mir erklären, was Sie daran finden. Die Dame, deren Namen Sie tragen, hatte göttliches Blut in den Adern – Mayfair sollte gerade gut genug für Sie sein.“
    „Wenn mich der Name an etwas erinnert“, schmunzelte ich, „dann daran, mich in Genügsamkeit zu üben. Sagten Sie nicht einst, die Götter seien meine Feinde? Nun, sie vergessen und vergeben nichts.“
    „Eine beneidenswert fatalistische Weltsicht“, lobte Bailey. „Sie hatten wohl einen Deutschen in Ihrer Verwandtschaft?“
    Wir hatten unterdessen die Waterloo Road erreicht und holperten über die großen Granitblöcke, mit denen die Straße ausgelegt war. Der Verkehr wurde hier immer dichter, und die Straßen rochen nach Mist und Stroh. Die erste Flut der Tagelöhner war bereits vorüber, doch immer noch strömten die Menschen ins Stadtinnere: zu Fuß, mit Karren oder in Kutschen wie wir. Es mussten Hunderttausende sein.
    Der Kutscher entrichtete den Brückenzoll, und wir überquerten die Themse. Man hatte einen atemberaubenden Blick von der Brücke, die genau im Knick des Flusses lag und einen traurigen Ruf als Liebling der Selbstmörder besaß. Zur Linken lag der Palast von Westminster mit seinen unvollendeten, himmelstürmenden Türmen; vor uns lagen Somerset House und die Prunkbauten des Strand.
    Der Fluss führte zu dieser Jahreszeit eine Menge Wasser, was gut war; wenn er niedrig stand, schien er manchmal nur aus Abfällen zu bestehen. Die Ärmsten der Armen, die davon lebten, diese Abfälle zu sammeln, spielten mit ihrem Leben, denn wenn sie sich bei ihrer Arbeit verletzten, starben sie nicht selten an der darauffolgenden Entzündung.
    In diesen Wochen aber war der Fluss voller Schiffe, die Besucher aus aller Herren Länder für die Große Ausstellung herbeibrachten, und Kohlenrauch hing über

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