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Der Kristallpalast: Ein Steampunk-Roman (German Edition)

Der Kristallpalast: Ein Steampunk-Roman (German Edition)

Titel: Der Kristallpalast: Ein Steampunk-Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Plaschka , Matthias Mösch , Alexander Flory
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durfte (sonst hätte ich das Talent des Mannes aus Rio einfach selbst ausprobiert). Hatte der Wicket-Keeper diese Regel gemacht oder jemand anderes? Was war überhaupt ihr Sinn?
    Egal, Hauptsache, ich hatte das Ding. Jetzt war ein kurzer Besuch auf der Toilette angesagt, denn ich trug das Talent üblicherweise dort, wo niemand danach suchen würde. Ich schob den Riegel vor, knöpfte meine Hose auf und tat, was getan werden musste, und schon fühlte ich mich wieder so stark, schnell und zäh, dass ich es mit drei O’Brians gleichzeitig hätte aufnehmen können.
    Jede Muskelfaser in meinem Körper meldete, dass sie einsatzbereit war. Endlich! Es war ein gutes Gefühl, eine neue Aufgabe zu haben.
    Ich musste gestehen, wie ich so darüber nachdachte, freute ich mich irgendwie auch darauf, diesen Palast von innen zu sehen.
    Das einzige, was mich ein bisschen wunderte, war, wie sehr ich mich darauf freute.

1.
    Artefakte
    Montag, 28. April 1851
    Nichts ist zu wundervoll, zutreffend zu sein.
    – Michael Faraday

Miss Niobe
    Jagd auf ein Phantom
    I ch hatte immer gewusst, dass eine Freundschaft mit Lord Bailey auch bedeutete, nach seinen Regeln zu spielen. Teil dieser Regeln war, dass man sie nie durchschaute. Vielleicht hatte die Vorstellung deshalb einen schrecklichen Moment lang plausibel geklungen, dass ich meine gesamte Existenz nicht mehr als einer Laune dieses exzentrischen Engländers verdankte, der die unwichtigen Dinge mit der trügerischen Offenheit eines Marktschreiers verkündete und die wichtigen mit der Geheimniskrämerei eines alten Drachen hütete.
    War die Errettung einer indischen Waise, eines indischen Bastardkinds, für ihn etwas anderes als der Einsatz eines kleinen Vermögens auf der Rennbahn, wie er ihn regelmäßig tätigte? War die Kreation Miss Niobes, der geheimnisvollen, exotischen Dame ohne Vergangenheit, die ihn auf seinen Ausflügen begleitete, nicht nur eine weitere Methode für ihn, Anstoß zu erregen, so wie er es mit seinen weißen Anzügen tat?
    Ich konnte Bailey nicht anzweifeln, ebenso wenig, wie man als Kind seinen Vater hinterfragen konnte. Ich verdankte ihm mein Leben. Ohne ihn wäre ich nichts gewesen. Er stellte mir alles zur Verfügung, was ich brauchte, und ermöglichte mir ein Leben, wie es nur die wenigsten Frauen in London führen konnten. Die Liste der Vorzüge war lang: Ich hatte meine eigene, bescheidene Behausung hier in Lambeth (ich glaube nicht, dass er je verstanden hatte, was ich daran fand – er hätte mir ebenso bereitwillig eine seiner Wohnungen in Mayfair oder Westminster überlassen); dank seiner hatte ich ein Konto, über das ich frei verfügen konnte, mehr Kleider, als ich je tragen könnte, und einige vertrauenswürdige Menschen, die sich um alles kümmerten, wenn ich – ebenfalls dank Bailey – gerade mal wieder auf Reisen war.
    Einer der unbestreitbaren Nachteile, ihn als Teil meines Lebens zu haben, war aber, dass er die Angewohnheit besaß, einfach unangemeldet aufzutauchen.
    Meine Wohnung bildete den Abschluss einer kleinen Reihe georgianischer Reihenhäuser in der Nähe des neuen Bahnhofs. Hinter dem Bahnhof, auf der anderen Seite der Themse, lagen das Parlament und die Behausungen der Reichen. Nördlich meiner Wohnung beschrieb der Fluss einen Bogen und strebte den Docks und den Armenvierteln im Osten entgegen. Alle Brücken, die den Fluss überquerten, trafen nicht weit von meiner Haustür im St. George ’ s Circus zusammen, in dessen Mitte sich der große Obelisk erhob, so dass ich wie an der Nabe eines großen Rades zu leben schien. Das gefiel mir. Ebenfalls ganz in der Nähe lagen der Palast des Erzbischofs und die Irrenanstalt – was mir schon eher zu denken gab.
    Die Menschen in Lambeth waren achtbare Händler und Arbeiter. Manchmal waren sie etwas rau, nicht selten waren sie betrunken, und ich denke, sie waren sich des zweifelhaften Rufs ihres Stadtviertels durchaus bewusst und vielleicht sogar ein wenig stolz darauf. Dennoch fühlte ich mich sicher, wenn ich nachts im spärlichen Schein des Gaslichts unterwegs war. Viele Straßen waren unbefestigt und erinnerten mich an die meiner Kindheit. Obgleich ich auf den nächtlichen Lärm aus den Trinkhallen oder auf die Gerüche nach frittiertem Fisch und verrottenden Abfällen in den Hinterhöfen gerne verzichtet hätte, gab es doch einen wichtigen Unterschied zwischen diesen Menschen und den Menschen des East End, oder den Schemen meiner Vergangenheit, die manchmal im Traum noch zu mir kamen:

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