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Der Kristallpalast: Ein Steampunk-Roman (German Edition)

Der Kristallpalast: Ein Steampunk-Roman (German Edition)

Titel: Der Kristallpalast: Ein Steampunk-Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Plaschka , Matthias Mösch , Alexander Flory
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Sie hatten noch nicht alle Hoffnung aufgegeben.
    Also bemühte ich mich, ihre Geduld mit mir nicht über die Maßen zu strapazieren.
    Ich achtete auf ein tugendhaftes Erscheinungsbild. Wenn sie mich sahen, trug ich meist Schwarz, also gingen sie davon aus, dass ich trauerte, auch wenn sie nicht wussten, ob ich meinen Gatten oder ein anderes Familienmitglied verloren hatte. Ich zeigte mich generös, aber nicht verschwenderisch. Also hatte ich wahrscheinlich geerbt und konnte mir deshalb den unverschämten Luxus erlauben, als alleinstehende Frau einen eigenen Haushalt zu führen. Ich fütterte die Katzen des Viertels, gab aber acht, dass niemand es mitbekam. Viele Londoner hielten Katzen für eine Plage und vergifteten sie mit Arsen (ich fragte mich, ob die Gesellschaft von noch mehr Ratten ihnen lieber gewesen wäre). Meine Übungen auf dem Cello verlegte ich in die Stunden des Tages, in denen ich meine Nachbarn aus dem Haus wusste; Streichinstrumente galten den Engländerinnen als unschicklich, und die letzte Zuflucht einer anständigen Tochter war das Piano, wie mir die kleine Deborah von nebenan täglich in den frühen Morgenstunden demonstrierte.
    Selbst nach vierzehn Jahren in England war ich immer noch eine Fremde, und auf eine gewisse Weise wollte ich das vielleicht auch sein. Warum hing man an einer Vergangenheit, die nur aus Trübsal und Entbehrung bestand? Warum nahm ich das Paradies, das Bailey mir bot, nicht einfach an?
    Du kennst die Antwort, dachte ich in den Minuten kurz vor dem Erwachen, als meine Träume so lebhaft wie Debbies Klaviernoten vor mir tanzten (ich wünschte wirklich, sie würden das Mädchen auf eine anständige Schule schicken, statt sie montags früh auf einem verstimmten Klavier spielen zu lassen). Diese Welt anzunehmen, hieße, zu vergessen: Ananda und das Versprechen, das dir gegeben wurde. Du würdest wie alle anderen sein. Unwillkürlich fasste meine Hand nach dem Geschmeide mit dem Shila um meinem Hals. Entgegen dem Rat der Loge trug ich ihn mittlerweile ständig, selbst im Schlaf – nur unter großem Widerwillen legte ich ihn manchmal ab, wenn Bailey etwas Neues damit ausprobieren wollte.
    Ich rappelte mich müde auf und rieb mir den Schlaf aus den Augen. Es war spät gewesen, als ich endlich nach Hause gekommen war. Die Uhr auf meinem Nachttisch zeigte acht. Ich wickelte mich in den Sari, den ich zu Hause gerne trug, und ging ins Untergeschoss. Dabei merkte ich schon, dass etwas nicht stimmte – es duftete nach heißem Wasser und Bergamotte. Ich spürte aber niemanden. Behutsam huschte ich den Rest der Treppe hinab und spähte ins Wohnzimmer.
    Bailey saß mit einer Tageszeitung vor dem kalten Kamin und zwirbelte gedankenverloren seinen Schnurrbart. Sein Schirm, den ich im Tempel gelassen hatte, lehnte neben ihm; auf dem kleinen Beistelltisch stand eine dampfende Kanne Tee.
    Bailey war einer der wenigen Menschen, die ich nicht schon von fern anhand ihrer Empfindungen wahrnehmen konnte, denn der Kristall in seiner Augenhöhle störte wie alle Kristalle meinen sechsten Sinn. Zu seinen Füßen lag Shah Jahan, der alte Perser, den ich kurz nach meinem Einzug aufgelesen hatte. Damals war er noch ein kleines Kätzchen gewesen. Inzwischen ging er nicht mehr nach draußen und verbrachte mehr Zeit in meiner Wohnung als ich selbst.
    Als ich eintrat, sahen Bailey und Shah Jahan auf. In vollkommenem Einklang glitten ihre Blicke interessiert an meinen nackten Füßen und dem Rest meiner spärlich gekleideten Erscheinung empor. Dann legte der Kater den Kopf wieder auf seine Pfoten, und Bailey strahlte mich unschuldig an. „Miss Niobe!“, rief er. „Sie steigen herab – die Sonne geht auf. Setzen Sie sich zu mir und lassen sie mich mich an Ihrem Glanze wärmen.“
    „Was verschafft mir die Ehre?“, spielte ich mit und ließ mich ihm gegenüber in einen Ohrensessel gleiten. Dann streckte ich mich, gähnte herzhaft und goss mir eine Tasse Tee ein.
    Bailey legte seine Zeitung zusammen und gab mir zwei Bögen Albuminpapier. Ich musterte sie ausgiebig, während ich an meiner Tasse nippte. Bailey beobachtete mich konzentriert und spielte mit dem Griff seines Schirms.
    „Sie waren schnell“, stellte ich fest.
    „Wie die Morgenpost“, nickte Bailey.
    Der erste Abzug zeigte in den typisch bläulichen Farben, die solche Bilder anscheinend immer besaßen, den letzten Blick, den Sir Malcolm auf diese Welt geworfen hatte. Nun sah ich sie mit seinen Augen. Ich fragte mich, was er empfunden hatte:

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