Der Kristallpalast: Ein Steampunk-Roman (German Edition)
allein, im kleinen Universum seines mit Lebenserinnerungen gefüllten Zimmers. Ich sah genauer hin. Der Umriss eines Mannes, der vor dem Fenster in der Platane saß und seine Hand auf mich gerichtet hielt, störte die Friedfertigkeit des Eindrucks. Er wirkte nicht besonders angespannt, aber seine eng beisammenstehenden Augen und sein unverschämtes Grinsen gaben ihm etwas Verschlagenes, ja Koboldhaftes, wie er da im Geäst saß. Je länger ich ihn ansah und versuchte, Details auszumachen, desto unwohler wurde mir bei seinem Anblick.
„Ich hatte im Tempel gesagt, Sie bräuchten die Nekrotypie möglichst schnell“, murmelte ich, während ich das Bild studierte.
„Ich hoffe, man hat Sie zuvorkommend behandelt?“, vergewisserte er sich.
„Wie üblich“, schmunzelte ich. Die meisten Angehörigen der Loge mochten mich nicht. Ich war eine Fremde, ich hatte keine Familie in der Stadt, und, was noch schlimmer war, ich war eine Frau. Manchmal glaubte ich, Bailey hatte mich nur nach England gebracht, um seine Loge zu provozieren.
„Fällt Ihnen sonst noch etwas auf?“, fragte er.
„Etwas an ihm missfällt mir“, sagte ich. „Es könnte damit zusammenhängen, dass sein linker Arm nicht zu sehen ist. Eigentlich ist gar nichts zu sehen, außer dem Gesicht und Teilen seiner rechten Hand.“
„Ah“, machte Bailey. „Ein Lächeln ohne Körper, glücklich wie eine Grinsekatze.“
Ich schaute irritiert.
„Die Grinsekatzen – also die aus Käse geformten Katzen aus Cheshire – werden immer vom Schwanz her gegessen“, erklärte er mir. „Ihr Grinsen ist das Letzte, was bleibt. Was wohl an unserem Killer nagte?“ Er kraulte Shah Jahan unter dem Hals, doch der Perser schnurrte nur und gab keine Antwort.
„Hat er eine Waffe in der Hand? Es ist schwer zu erkennen, mit den Blättern.“
„Ja, die Waffe“, sinnierte Bailey. „Ich brenne darauf, sie zu sehen, denn momentan haben wir keine Ahnung, wie sie funktioniert.“
„Was ist mit den dunklen Rückständen an der Wunde?“
„Kohlenstoff“, sagte Bailey. „Kein Schwarzpulver. Faszinierend, nicht wahr? Werfen Sie doch mal einen Blick auf das zweite Bild.“
Ich stutzte. Das Bild war verwackelt und unterbelichtet, und das erste, was auffiel, war die üppige Fläche weißen Fleisches, das zum Oberkörper einer spärlich bekleideten Dame mittleren Alters gehörte. Ein prächtiges Collier funkelte auf ihren Brüsten. Noch überraschender als die vertrauliche Nähe des Photographen war jedoch die noch wesentlich vertraulichere Geste des Herrn an ihrer Seite, deren Unziemlichkeit lediglich durch die Verwaschenheit der Ablichtung gemildert wurde. Das Gesicht des Mannes lag halb im Schatten, aber das freche Grinsen auf seinen kleinen Lippen und das freudige Funkeln seines Wieselblicks genügten: Es war derselbe Mann. Im Hintergrund konnte ich den aufwendigen, von Säulen getragenen Vorbau eines großen Gebäudes ausmachen.
„Wo haben Sie das her?“, staunte ich.
Bailey hob bescheiden die Schultern und tippte an seine Brille. „Ich sage immer, man muss seine Augen überall haben, und die Illustrated London News ist sicher nicht der schlechteste Ort dafür – denn die News sieht, wie wir wissen, alles.“
„Diese Talbotypie ist für eine öffentliche Reproduktion ungeeignet“, warf ich ein. „Aus mehrerlei Gründen.“
„Umso wertvoller ist sie für uns“, schmunzelte Bailey. „Wer immer den guten Sir Malcolm auf dem Gewissen hat, er hat gestern Nacht nichts anbrennen lassen. Kennen Sie die Dame?“
„Ich fürchte, nein.“
„Das würde sie gewiss betrüben. Sehen Sie nur, diese Klunker! Erfreulicherweise werden wir in Kürze erfahren, wo sie wohnt: Wir haben eine Spur.“
„Ich werde mich anziehen“, sagte ich und erhob mich.
„Ich bitte darum“, lächelte Bailey, zückte demonstrativ eine kleine Taschenuhr und beäugte sie kritisch. Ich wusste, er verabscheute Chronometer ebenso wie Eile und erwartete wahrscheinlich, dass ich selbst die Rolle der Mahnenden spielte.
„Sie haben eine neue Uhr“, stellte ich also unverbindlich fest.
„In der Tat. Wie finden Sie sie?“
„Ist ihr ein ebenso kurzes Schicksal beschieden wie der letzten?“
„Die Ungeduld, mit der sie uns antreibt, lässt darauf schließen.“
„Dann werde ich mich beeilen“, lachte ich und huschte nach oben.
Ich zögerte nur kurz bei der Wahl meiner Garderobe. Wenn Bailey früh morgens in meinem Wohnzimmer saß, bedeutete das Ärger. Vielleicht mehr Ärger als am
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