Der Kristallpalast: Ein Steampunk-Roman (German Edition)
gehört. Vielleicht war er zu diesem Zeitpunkt auch schon nicht mehr im Fort (1791, zwölf Jahre nach seiner Rückkehr, soll er einen schweren Rückfall erlitten haben, und man erwog seine Überführung in eine spezielle Heilanstalt). Seine Aufzeichnungen aber, mitsamt den Notizen einiger der mit der Untersuchung seiner Funde betrauten Wissenschaftler, hat man hastig versteckt. Drei Jahre später wurde die VOC zerschlagen.
Der Treppenwitz an der Sache ist, dass wir Chinsura für die kommenden zwanzig Jahre hielten, ohne je auf eine Spur dieser unglaublichen Geschichte zu stoßen. Ein paar Bedienstete hatten die ganze Zeit über im Fort gelebt, ohne ein Wort über Vanderbilt zu verlieren – wie diese verfluchten Inder eben so sind. Schließlich gaben wir den Niederländern das Fort sogar zurück, aber dank der in der Heimat von Napoleon angerichteten Unordnung hatten sie da schon andere Sorgen als Abenteuer aus alten, besseren Tagen, und niemand dachte mehr daran.
Erst, als das Fort vor zwei Jahren mit dem Londoner Vertrag ein letztes Mal den Besitzer wechselte und seine verbliebenen Bewohner sich nach Niederländisch-Indien einschifften, wurden die Aufzeichnungen wieder entdeckt – von einem Zimmermann, der die Holzverkleidungen der Gästequartiere erneuern sollte und gar nicht wusste, was er mit seinem Fund anstellen sollte. Ich war während des Kriegs im Fort stationiert, aufgrund einer leichten Influenza aber gerade vom Dienst befreit, und man bat mich wohl nur, einen Blick auf die Papiere zu werfen, weil ich die Zeit dazu hatte und über eine gewisse Kenntnis des Niederländischen verfügte. Also übersetzte ich die Dokumente – und im selben Maße, in dem mein Leib genas, packte ein neues Feuer meinen Geist: die Wunder eines verborgenen Ortes in den Wäldern jenseits Arakans, der den Schlüssel zu einem Geheimnis enthielt, so unglaublich, dass es unsere gesamte Weltsicht auf den Kopf zu stellen geeignet ist.
Ich zeigte meinen Vorgesetzten die Übersetzungen. Zuerst hielt man sie für die Hirngespinste eines geistig verwirrten Mannes. Dann holte man Erkundigungen ein, und auf einmal ergaben einige der Entscheidungen, die die VOC in ihren letzten Jahren traf, während in der Heimat ihre alte Republik dem Untergang entgegen trudelte, einen neuen, eigenartigen Sinn.
Dann gewannen wir den Krieg gegen Birma. Arakan war von den Besatzern befreit, und besser noch – es gehörte uns.
Nachtrag
Gute Neuigkeiten! Cray hat die Stupa gefunden – sie liegt am nordöstlichen Rand der Stadt, und ich hatte recht mit meiner Annahme, dass Vanderbilt auf dem gleichen Weg in die Stadt zurückkam, auf dem er sie verlassen hatte. Es war nicht leicht, nach so vielen Jahren die Hinweise zu finden: Das Grün der Ziegel war lange verblasst, die Treppe, von der Vanderbilt sprach, überwuchert. Am Fuß der Treppe aber entdeckten wir nach eingehender Suche einen Weg, der zu einem Graben führte, der einst Teil des Verteidigungs- oder Bewässerungssystems der Stadt gewesen sein mochte, in das mehrere von Norden und Osten kommende Wasserläufe geleitet wurden, und diesen Graben wiederum überspannte eine alte, baufällige Brücke.
Ich befragte mit Hilfe der Führer die Einheimischen, wohin der Weg über die Brücke führt, doch sie scheuen sich, eine klare Antwort zu geben und behaupten, diesen Pfad noch nie benutzt zu haben. Im Nordosten liegt das Land der Chin, und es scheint, die Bewohner Arakans sind nicht gut auf diese Leute zu sprechen, die von jeher einen Ruf als Menschenjäger haben. Die Mauern auf dieser Seite der Stadt, die früher wahrscheinlich zu einem kleineren Stadttor gehörten, sind denn auch mit den unsäglichsten Fratzen und Schutzzeichen verziert.
Fast noch aufregender jedoch ist die Entdeckung, die wir im Inneren der Stupa gemacht haben. Zuerst war sie unter all dem Staub und dem Schmutz kaum zu erkennen, doch die gewissenhafte Untersuchung Crays förderte sie schließlich zutage: eine Grabplatte im steinernen Boden, versehen mit einheimischen Schriftzeichen und einem christlichen Kreuz. Cray sagt, die Inschrift ähnele den Beinamen, die man einst Königen und Helden verlieh. Sie bedeute in etwa: „der Wissen erstrebte und im Tod die Erleuchtung fand.“
Ich habe befohlen, das Grab zu öffnen, auch wenn Cpt. Adams Vorbehalte äußerte. Damit es keine Heiden schänden, werden Lt. Hall und der Sergeant diese Arbeit übernehmen.
26. Oktober
Ein nebliger Morgen, der die Kuppeln der Paläste wie geisterhafte
Weitere Kostenlose Bücher