Der Kristallpalast: Ein Steampunk-Roman (German Edition)
Schnee aussah. Ein Pilger in leuchtenden Gewändern hatte mir davon erzählt. Er hatte das Dach der Welt gesehen und einen Nachmittag auf den Stufen mit mir verbracht. Von ihm wusste ich, dass Schnee weiß war und nur auf den steilsten und kältesten Gipfeln lag. Von Gebirgen oder Kälte hatte ich ebenfalls nur eine vage Vorstellung.
Mit England verhielt es sich ähnlich. Es gab diesen Ort, und er war anscheinend sehr weit entfernt, weiter noch als das Dach der Welt, das viele Tage oder Wochen den Fluss hinauf lag. Aber obgleich der Name England mir nichts bedeutete, wusste ich doch, was Engländer waren. Engländer waren die Herren der Welt. Was ich nicht verstand, war, wie das sein konnte, wo sie doch nie in den Tempel kamen und zu Kali oder Shiva beteten. Vielleicht beteten sie an einem anderen Ort.
Dieser Engländer war anders. Wie alle Angehörigen seines Volkes hatte er helle Haut, war viel zu dick gekleidet und litt unter der Hitze. Dauernd tupfte er sich die Stirn mit einem weißen Tuch. Überhaupt war alles an ihm weiß, von seinem eigenartigen Hut bis zu seinen großen weißen Schuhen. Nur mit seinem Antlitz stimmte etwas nicht: Denn auf seiner runden Nase, die sich über einem dichten weißen Bart erhob, trug er ein Gestell, das eines seiner Augen mit einer schwarzen Scheibe bedeckte, wie Rahu, der Dämon, der die Sonne verschluckt.
Ich fragte mich, ob das Gestell ihm Probleme bereitete, denn er stand hilflos am Fuß der Treppe und spielte mit seinem Schirm, während um ihn herum Säcke und Kisten voll Baumwolle und Indigo verladen wurden und Frauen ihre Wäsche im Wasser des Kanals wuschen. Auf die Idee, er könne auf einem Auge blind sein, kam ich erst später. Ich kannte weder Brillen noch Schirme und hatte noch nie einen blinden Engländer gesehen.
Dann ließ er seinen Blick die Stufen emporschweifen und betrachtete den Tempel. Er schien jede Kleinigkeit in sich aufzunehmen; es kam mir vor, als stünde er eine Ewigkeit dort unten, und fast hatte ich ihn vergessen, als er sich schließlich anschickte, die Stufen zu erklimmen.
Die meisten Bettler ließen ihn in Ruhe, denn sie versprachen sich nur Ärger von ihm. Engländer schien es wenig zu kümmern, ob sie Punya erlangten. Nur ein paar der kleineren Kinder streckten ihm die Hände entgegen, aber er beachtete sie nicht. Neugierig sah ich zu, wie er näher kam, schnaubend und klappernd, ein seltsames dreibeiniges Wesen mit einem gezwirbelten Bart.
Ich hatte nicht vor, ihn anzusprechen; ich hatte meine Erfahrungen mit Engländern gemacht.
Die Stimme im Tempel aber wollte es.
Also stand ich auf und trat ihm in den Weg.
Irritiert sah er mich an. Ich glaube, er war belustigt von meinem Anblick, wie ich da vor ihm stand wie ein halbstarker Mastan , der Wegzoll von ihm erpressen wollte. Dann griff er in die Tasche, zog eine kleine Silbermünze hervor und ließ sie so unauffällig wie möglich in meine Hand gleiten. Erstaunt betrachtete ich die fremden Schriftzeichen und das wohlgenährte Gesicht eines unbekannten Mannes darauf. Es war eine Viertelrupie – mehr Geld, als ich je im Leben besessen hatte, und ich fragte mich, ob ich sie je würde ausgeben können, ohne festgenommen und geschlagen zu werden.
„ Onek dhonyobad “, hauchte ich.
„Keine Ursache“, erwiderte er in fließendem Bengali.
Ich war so verblüfft, dass er meine Sprache sprach, dass ich gar nichts sagte. So standen wir da, auf den Stufen des Tempels: ich barfuß, schmutzig, in lohfarbenen Baumwolllumpen, das lange Haar ganz verfilzt; er in seinem blütenweißen Anzug, eine Hand in der Hosentasche, die andere um den Griff seines Schirms gelegt.
„Nun“, sagte er, um das Schweigen zu brechen, und hob den Blick von mir. „Das ist er dann wohl. Der Kali-Tempel von Kalighat.“
„Ja, Sahib“, bestätigte ich. „Das ist er.“
„Kannst du mir etwas darüber erzählen?“, erkundigte er sich.
„Was Ihr wollt“, nickte ich. Es war die Wahrheit – dank Danias Geschichten kannte ich den Tempel und die Legenden, die sich um ihn rankten, in- und auswendig. Vielleicht war er das einzige, womit ich mich wirklich auskannte.
Zu meinem Erstaunen ließ sich der Engländer auf den Treppenstufen nieder und bedeutete mir, mich zu ihm zu setzen. „Ich bin ganz Ohr“, sagte er.
„Was wollt Ihr wissen?“, fragte ich und hockte mich neben ihm auf die heißen Stufen. Die Jatris und Pandas warfen uns befremdete Blicke zu und schlugen einen Bogen um uns.
„Fang einfach von vorne
Weitere Kostenlose Bücher