Der Kristallpalast: Ein Steampunk-Roman (German Edition)
bevorsteht. Habe den Männern wenig Pause gegönnt, damit wir Boden gutmachen und möglichst bald den Schutz der Wälder erreichen. Ich lege wenig Wert auf die Bekanntschaft der Einwohner dieser Gegend.
Wir reisten wie Vanderbilt immer in Sichtweite des kleinen Flusslaufs, der sich durch die Hügel nach Nordnordost schlängelte und schafften gut und gern zwölf Meilen, wenn nicht mehr, ehe wir das Lager aufschlugen.
Seitdem habe ich mich in die Betrachtung des Tagebuchs vertieft. Das Niederländische ist ein grausamerer Feind als die Menschen, die es sprechen, es je sein könnten, voll falscher Fährten und irreführender Begriffe, und ich empfinde einen fast körperlichen Widerwillen bei dieser Arbeit; auch deshalb, weil fast jeder Abschnitt, jeder Satz meine schlimmsten Befürchtungen bestätigt, und meine Zuversicht, mich gegen alle Widrigkeiten dieser Reise gewappnet zu haben, schwinden lässt. Fast fühle ich mich betrogen und wütend und versuche, die Gewissheit, die mir diese Lektüre verschafft zu leugnen, doch Leugnen ist zwecklos, und so bleibt mir nichts als die Scham des Übertölpelten. Was würde Nora sagen, wüsste sie, wie leicht es gelang, mich an der Nase herumzuführen? Fast widerstrebt es mir, die Worte zu schreiben, doch was nutzt es, also kurzum:
Der Mann in dem Grab ist Vanderbilt. Er trägt Uniform und Abzeichen eines Majors, und das Tagebuch, das ich nun von hinten nach vorne übersetze, um einen Eindruck seiner letzten Aufzeichnungen zu erhalten, ist seins. Der Anführer der niederländischen Expedition hat Arakan niemals verlassen.
Wer immer nach Chinsura zurückkehrte und dort die Notizen versteckte, denen ich, wie mir nun klar ist, ein grundloses Vertrauen entgegenbrachte – es war nicht Vanderbilt. Ich glaube, es war Fleerackers. Es muss Fleerackers gewesen sein, denn weshalb hätte jemand dem toten Forscher Vanderbilts Uniform anziehen und ihn mitsamt seiner Ausrüstung und seinen Tagebüchern in der Stupa bestatten sollen?
Es scheint also, als habe Vanderbilt im Schatten der grünen Stupa sein Leben ausgehaucht und als hätten Fleerackers oder wahrscheinlicher sogar die Einheimischen den Major ehrenvoll bestattet, ehe Fleerackers unter falscher Identität nach Bengalen zurückging. Dies würde die plötzliche Reserviertheit der Einheimischen ebenso erklären wie die verwunderliche Entscheidung der niederländischen Armee, den Heimkehrer für die nächsten Jahre zwar mit allen Annehmlichkeiten zu verwöhnen, ihn aber nie ohne Bewachung vor die Tür zu lassen und jeden Umgang mit ihm (das wissen wir aus alten Protokollen des Forts) streng zu reglementieren. Dennoch stellt sich die Frage: warum? Weshalb ein solches Maskenspiel, dem so wenig Aussicht auf Erfolg beschieden ist (denn Fleerackers muss doch klar gewesen sein, dass irgendjemand in Chinsura Vanderbilt gekannt hat)? Weshalb unterschrieb der junge Gelehrte all seine Erinnerungen mit dem Namen des Majors? Hatte sein Geist sich so weit verwirrt, dass er sich für ihn hielt?
Ich hoffe, einige dieser Fragen werden sich klären, wenn ich mit der Lektüre des Tagebuchs Fortschritte mache. Im Moment ist es Zeit, die Wache an den Sergeant zu übergeben und etwas Ruhe zu finden, denn ich will morgen schließlich nicht derjenige sein, der uns aufhält, weil ihm beim Marschieren die Augen zufallen.
Es ist kalt, und die Sterne stehen am Himmel. Ich frage mich, wie es war, als die Niederländer dieselben Sterne über den unberührten Bergrücken im Osten sahen.
Meine Gedanken sind bei meinen Lieben in England.
27. Oktober
Marsch bei Regen. Verflucht seien die Kalender aller Wetterdeuter. Schwindler und Wahrsager! Haben die Hügel hinter uns gelassen und den Rand der Wälder erreicht, wo wir unsere Sachen trocknen, so gut es eben geht. Haben höchstens zehn Meilen geschafft und halten uns nach wie vor am Ufer des kleinen Flüsschens. Auch fanden wir auf unserem Weg einige der Landmarken, von denen Vanderbilt – Fleerackers? – sprach, aber meine Freude darüber hält sich in Grenzen. Es war ein schlechter Tag.
Wenn wir unsere Position auf der Karte korrekt bestimmt haben, haben wir Arakan hinter uns gelassen. Größte Vorsicht ist geboten; nicht nur wegen des Zwischenfalls heute Mittag und auch nicht der Schauergeschichten von Menschenfressern und Dämonen wegen, mit denen Cray uns aufzumuntern glaubt. Nach dem Wortlaut der Londoner Verträge befinden wir uns auf birmanischem Hoheitsgebiet – und auch, wenn man das Eindringen von
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