Der Kristallpalast: Ein Steampunk-Roman (German Edition)
möglich ist, dass sich die Dörfler noch daran erinnerten, ja vielleicht seither keine Weißen mehr gesehen hatten und uns deshalb so feindselig begegneten. Vanderbilt berichtet nicht, was genau vorfiel, aber Leutnant Willems scheint in Notwehr einen Wilden erschossen zu haben. Nach Osterhoudts Tod machte er ihn zu seinem neuen Adjutanten. Tatsächlich erinnert mich Willems stark an Hall: Dasselbe Ungestüm, dieselbe Härte gegenüber sich selbst und den anderen.
Ich ertappe mich dabei, dass diese Männer zu meinen Freunden werden, je länger ich über sie lese: Ich fühle mit Druyts, wenn er unter Willems ’ Schikanen leidet, und es entsetzt mich, wie Fähnrich Lakerveld zunehmend unter Willems’ Einfluss gerät, bis Vanderbilt fürchtet, den Jungen an ihn zu verlieren. Auch das Misstrauen gegenüber Fleerackers kann ich mittlerweile sehr viel besser verstehen.
Cray beobachtet mich von der anderen Seite des Feuers, während ich dies schreibe. Er hat Orchideen gesammelt, und ich weiß, dass er mehrere Trommeln mit sich führt, in denen Botaniker Proben lagern. Aber er studiert nicht seine Blumen, sondern mich, und ich mag es nicht, wie er mich ansieht.
Vielleicht mag er mich ja ebenso wenig.
Ich frage mich, was letztlich die Katastrophe herbeiführte.
30. Oktober
Aufstieg ins Arakan-Yoma-Massiv. Wanderten den Morgen über durch einen Teakwald, bis dieser sich zu lichten begann und wir auf einen weiteren Wasserlauf trafen. Dieser führte uns nach einer Stunde, wie ich es gehofft hatte, zu einem eindrucksvollen Wasserfall, der nicht auf den Karten verzeichnet ist. Der Fluss stürzt gut und gern sechshundert Fuß in die Tiefe, sammelt sich in einem Felsbecken und verliert sich in mehreren Nebenarmen in den Wäldern.
Während wir auf der Suche nach einem geeigneten Punkt für den Aufstieg den Felshang entlangwanderten, machten wir eine Entdeckung: Etwa hundert Yards von der Stelle, an der der Fluss in sein Becken stürzt, lagen zwei Gräber unter einer alten, verwachsenen Kiefer. Es gab nicht viel Erde auf dem Fels, daher hatte man Steinhaufen über den Toten aufgeschichtet, um sie davor zu bewahren, von wilden Tieren gefressen zu werden. Trotzdem hatte sich etwas an wenigstens einem der Gräber zu schaffen gemacht, oder Wasser und Wind hatten mit den Steinen gespielt. Ich hätte die beiden Haufen jedenfalls gar nicht sofort als das erkannt, was sie waren, wenn Hall nicht so lange mit nachdenklichem Gesicht vor ihnen verharrt hätte.
Diesmal gab es keine Diskussionen darüber, ob wir die Gräber öffnen sollten oder nicht. Hall und O’Lannigan übernahmen wieder die Arbeit und legten in kürzester Zeit die sterblichen Überreste zweier Männer frei. Nur eins der Gerippe war noch vollständig, und was sie an Ausrüstung bei sich hatten, war bis zur Unkenntlichkeit verwittert und verrostet. Gleichwohl hatten wir keinen Zweifel, zwei weitere Mitglieder der Vanderbilt-Expedition gefunden zu haben. Ich wusste, es musste sich um Willems und Lakerveld handeln – und ein seltsamer Schauder befiel mich, als ich Hall mit Willems’ Schädel in der Hand da stehen und ihn drehen und wenden sah. Dann legte er den Schädel weg und griff in den Brustkorb des Gerippes. Ich war nicht sicher, aber es sah aus, als habe er etwas gefunden. Als ich ihn darauf ansprach, brummte er jedoch nur ausweichende Worte. Als ich ihn ermahnte, mir klar zu antworten, wies er mich darauf hin, dass das Rückgrat des Mannes von einer Kugel zerschmettert worden sei. Ich sah nach und musste ihm zustimmen: Man hatte Willems offenkundig in den Rücken geschossen. Gut möglich, dass Hall die Musketenkugel zwischen den Knochen gefunden hat.
Wir begannen mit dem Aufstieg, mussten aber bald im Schutze einer Felsnadel rasten. Da wir keine Bergsteigerausrüstung mit uns führen, verloren wir viel Zeit mit der Suche nach einem sicheren Weg, und unser Gepäck erwies sich leider als sehr hinderlich, so dass wir uns schließlich schweren Herzens von Teilen unserer Ausrüstung trennten und sie unter der Felsnadel zurückließen. Darunter war auch eines der Zelte – werde mir von nun an also meinen Schlafplatz teilen müssen, so dass alle außer dem Wachhabenden ein Dach über dem Kopf haben.
Der weitere Aufstieg schien sich am besten in einer schrägen Verwerfung bewerkstelligen zu lassen, die uns nahe an den Fall heranführte. Das monotone Brausen nahmen wir bald kaum noch wahr, aber der Wind blies das Wasser in unsere Richtung, und die Felsen waren nass
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