Der Kristallpalast: Ein Steampunk-Roman (German Edition)
Loge höchstwahrscheinlich sehr gerne zurück hätte. Ganz bestimmt arbeitete er nicht selbst für die Loge. Eher, nahm ich an, arbeitete er für eine Gruppierung, der es in der Vergangenheit gelungen war, an einen Teil der alten Schätze zu gelangen – und damit war er schon der zweite in diesen Tagen, denn ich glaubte auch nicht, dass er mit Frans unter einer Decke steckte.
Bailey hatte mich zurecht daran erinnert, dass es solche Leute geben mochte, und nun tauchten sie auf, einer nach dem anderen; es war, als seien wir alle kleine Quecksilberkügelchen, die zielstrebig in eine Richtung perlten. Bald würden wir einander nicht mehr ausweichen können: Wir würden einander berühren, und vielleicht würden wir einander auslöschen.
Wenn es tatsächlich noch andere Gruppierungen gab, die sich im Besitz von Shilas und Kristallen befanden, würde die Loge es sicher nur ungern eingestehen, besonders einer Außenseiterin wie mir. Was, wenn mein Herausforderer die Wahrheit gesagt hatte? Wenn er wirklich im Dienste der Armee stand? Konnte es sein, dass ich dann diejenige war, die sich in den Augen der anderen mit etwas bewaffnet hatte, worauf sie kein Anrecht besaß? Wenn dem so war, saß ich in der Patsche.
Ich sah die hünenhafte Gestalt des Captains vor mir aus der Menge ragen. Es machte nicht den Anschein, als hätte er vor, eine Kutsche zu nehmen. Sein Ziel schien auch nicht mehr fern. Wir erreichten Knightsbridge, dann Kensington Gore. Unmittelbar vor uns erhob sich die segeltuchverkleidete Südseite des Kristallpalasts, und diesmal, bei klarem Verstand und nicht mehr im Rausch der verwirrenden Eindrücke meiner gestrigen Jagd, war ich ganz sicher, dass ich einen deutlichen Sog hin zum Palast verspürte. Er beeinträchtigte meine Sinne nicht nur – er lenkte sie.
Mit einer seltsamen Mischung aus Genugtuung und Schaudern sah ich, dass es meinem Captain nicht anders erging. Immer wieder zuckte sein Kopf zur Seite, als ginge er an einem schlafenden Drachen vorbei und müsse sich vergewissern, dass er nicht aufwachte; einmal schickten sich seine Füße an, die Straße zum Hydepark zu überqueren, und mit einem fast ärgerlichen Stampfen lenkte er sie zurück auf den Gehweg. Ich lächelte. Er war müde, und seine Instinkte gewannen die Oberhand über seine Selbstbeherrschung.
Dann hielt er auf ein prunkvolles Anwesen zu, und ich ging hinter einer geparkten Kutsche in Deckung, als er klopfte und den Blick kurz über die Straße schweifen ließ. Auf der anderen Straßenseite, etwa zweihundert Yards von uns und dem Palast entfernt, standen mehrere Gespanne vor dem Kensington Gate. Die Feuerwehr war da, und Männer trugen Lasten, die ich aus der Ferne für Sandsäcke oder Fässer hielt, in den Park. Als der Wind drehte, nahm ich einen schwachen Geruch nach verbranntem Holz wahr; aus dem unaufgeregten Verhalten der Männer aber schloss ich, dass, was immer sich auch ereignet hatte, bereits vorbei war. Mein Captain schien zu einem ähnlichen Schluss zu kommen, denn er gähnte nur kräftig und richtete seine Aufmerksamkeit dann wieder auf die Tür vor ihm.
Die Tür öffnete sich, und ein Bediensteter bat ihn herein. Sobald er eingetreten war, schloss ich auf. Ich erkannte das Anwesen als Gore House, in dem in zwei Tagen ein außergewöhnliches Spezialitätenrestaurant seine Pforten für die Besucher der Ausstellung öffnen sollte. An sich müsste es noch geschlossen haben. Andererseits nahm ich an, dass Captain Royle nicht zum Frühstücken in die unmittelbare Nähe des Palasts zurückgekehrt war.
Kurz darauf öffnete sich die Tür ein weiteres Mal, und zwei Diener schleppten keuchend eine große, tropfende Kiste heraus, die nach verdorbenen Fischen roch. Ich lächelte ihnen ermutigend zu, schlüpfte an ihnen vorbei ins Innere und schloss die Tür hinter mir.
Ich stand in einer prächtigen Halle, in der geschäftige Betriebsamkeit herrschte. Ich erhaschte einen Blick auf den Rücken des Captains, der die Halle gerade verließ, nahm mir schnell ein Tablett mit einer Kanne Tee und zwei Tassen von einem der Tische, damit es so aussah, als hätte ich etwas zu tun, und folgte ihm.
Die Wand über der Prunktreppe am Ende der Halle war von einem gewaltigen Gemälde überzogen, in dem sich die verschiedensten Persönlichkeiten aus Weltpolitik, Kunst oder Sage drängelten, umkränzt von einem Reigen phantastischer Geschöpfe. Ich entdeckte die alten Rivalen William Pitt und Charles James Fox zwischen herabstoßenden Greifen;
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