Der Kristallpalast: Ein Steampunk-Roman (German Edition)
vor Gischt. Wir bewegten uns so sorgsam wie möglich, dennoch verlor Shiels auf halbem Weg den Halt und rutschte mehrere Yards den Hang hinab, ehe ich ihn packen und auf sicheren Boden ziehen konnte. Nachdem der erste Schreck abgeklungen war, stellte er fest, dass er sich am Fuß verletzt hatte. Er überging es aber und bestand darauf, den Weg fortzusetzen, obwohl er offensichtlich starke Schmerzen hatte, und uns allen fiel ein Stein vom Herzen, dass nichts Schlimmeres passiert war; denn in der ersten Schrecksekunde hatten wir ihn alle fallen und in der Tiefe zerschellen sehen.
Als wir oben ankamen, waren wir durchgefroren und völlig durchnässt. Wir breiteten unsere Sachen zum Trocknen in der Sonne aus und brachen erschöpft zusammen. Dann sah sich Cray den Fuß des Leutnants an. Er war gerötet und stark angeschwollen, und dicht über dem Knöchel klaffte eine Wunde, wo ein spitzer Fels durch Stiefel und Fleisch geschnitten hatte. Cray reinigte die Wunde und legte einen Stützverband an. Der Blutverlust war unbedeutend, aber wahrscheinlich waren ein oder mehrere Bänder gerissen, und da keiner von uns ein ausgebildeter Arzt ist, können wir auch eine Fraktur nicht ausschließen.
Da uns nichts anderes übrig blieb, bauten wir eine Krücke für ihn, und nach kurzer Rast setzten wir unseren Weg fort.
So ging es noch zwei Stunden durch lichte Kiefernwälder, ehe wir wieder unser Lager aufschlugen. Hall, dem die Kletterei am wenigstens zugesetzt hatte, drängte darauf, noch zwei oder drei Meilen weiterzugehen, ich entschied jedoch anders. Shiels taumelte vor Schmerzen, und auch, wenn er sich zunächst dagegen sträubte, so willigte er schließlich doch ein, sich von Cray eine kleine Menge Opium verabreichen zu lassen, damit er die Nacht wenigstens schmerzfrei schlief.
Mein eigentlicher Grund zur Rast aber war, dass es mich drängte herauszufinden, welche Tragödie sich damals an den Wasserfällen ereignet hatte. Ich nahm mir abermals das Privileg der ersten Wache heraus und machte mich an die Arbeit, und wirklich dauerte es nicht lange, bis ich den entsprechenden Eintrag in Vanderbilts Tagebuch gefunden hatte.
Auch Cray war wieder mit mir wach geblieben und blätterte sich durch sein kleines Herbarium. Sobald die anderen schliefen, kam er herüber und verwickelte mich in ein Gespräch über dieses und jenes. Dann fragte er mich, ob ich nicht meine, dass es an der Zeit sei, mein Wissen, das ich aus der Lektüre des Tagebuches gewonnen hatte, zu teilen.
Ich zögerte, denn es widerstrebte mir, Teile der Geschichte zu enthüllen, bevor ich das Ganze kannte. Andererseits konnte Cray mir helfen, jene Passagen des Texts zu entschlüsseln, in denen sich die bereits erwähnten fremdartigen Ausdrücke häuften. Cray diese Passagen zu zeigen schien mir nicht unbedenklich, schon deshalb, weil Vanderbilt in ihnen beschreibt, wie unter seinen Männern Streit über ihre geheimnisvollen Fundstücke ausbrach und die Befürchtung äußert, dass dieser Streit einen bösen Ausgang nehmen könnte – eine Befürchtung, die mir nicht mehr fremd ist. Doch obwohl oder gerade weil ich Cray nicht traute und wusste, dass es den anderen ähnlich erging, war ich zuversichtlich, dass dieses Gespräch unter uns bleiben würde, und so gewann meine Neugierde die Oberhand.
Ich zeigte Cray also einige der Stellen, und er bestätigte meine Vermutung, dass Vanderbilt indische Begriffe in unser Alphabet übertragen hatte. Er studierte sie eingehend und erklärte dann, es handle sich um Anspielungen auf eine alte Legende, der zufolge man einst einen Gott oder eine Göttin zerstückelt und die göttlichen Teile über die ganze Welt verstreut habe. Er fragte mich nach den niederländischen Passagen dazwischen, aber ich enthüllte ihm nur das Nötigste und behauptete einfach, dass Vanderbilt auf eine Spur dieser Legende gestoßen sei.
Dann fragte ich ihn nach dem Wort, das mich beschäftigt, seit ich mit der Übersetzung des Tagebuchs begonnen habe, jenem Wort, mit dem Vanderbilt die wertvollsten Teile seines Schatzes bezeichnet, und das in diesem Buch immer wieder fällt.
Cray warf einen Blick darauf und sagte, die Bedeutung des Worts sei nicht entscheidbar, ohne den Kontext zu kennen, denn Vanderbilt habe es versäumt, die Lautlänge der einzelnen Vokale anzugeben. Spräche man es auf die eine Weise aus, so Cray, bedeute es nicht viel mehr als „Stein“ – spräche man es aber auf eine andere Weise aus, könne es auch „Tugend“ oder
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