Der Kristallpalast: Ein Steampunk-Roman (German Edition)
ich erkannte Mark Lemon, den Herausgeber des Punch, inmitten einer Mäuseschar, und Abd-el-Kader, den algerischen Freiheitskämpfer, der auf einem Mastodon ritt; ich sah Ali Baba, Minerva und Tom Thumb sowie Dickens und Thackeray in der zärtlichen Nähe einiger Pegasi. Mir wurde schwindlig.
Ich folgte dem Captain in einen Salon, den hohe Vasen und arkadische Landschaftsgemälde beherrschten. Rasch wandte ich ihm den Rücken zu, als er vor den Sprossentüren innehielt, die zum Garten hinausführten und sich suchend umsah. Ruhig trat ich an einen der vielen Stehtische, goss mir selbst eine Tasse Tee ein und trank einen Schluck und dann noch einen, ehe ich es wagte, einen Blick über die Schulter zu werfen.
Der Captain war verschwunden. Er konnte nur nach draußen gegangen sein, aber ich konnte ihn weder auf der Veranda noch in dem ausgedehnten Landschaftsgarten mit seinen Walnuss- und Maulbeerbäumen entdecken, der sich darunter erstreckte. So zwang ich mich, Ruhe zu bewahren, ehe ich etwas Unüberlegtes tat. Ein Herr in einem schwarzen Anzug mit Halbglatze und einem spitzen Bart warf mir im Vorübereilen einen skeptischen Blick zu, und ich hob meine Tasse und schenkte ihm mein verbindlichstes Ich-bin-ja-so-froh-für Sie-zu-arbeiten-Lächeln.
Kurz darauf kam der Captain wieder die Treppe hoch und stellte sich auch an einen der Tische. Bei sich hatte er ein Glas mit einer goldenen Flüssigkeit und einen Bogen Papier. Er trank einen Schluck, rieb sich den Nacken, zückte einen Füllfederhalter und begann zu schreiben. Ich für meinen Teil nahm mir einige Deckchen von einem Stapel und schickte mich an, am anderen Ende des Raums die verbliebenen Tische einzudecken. Wenn der Captain mit seinem Drink länger brauchen sollte, würde ich mir etwas anderes einfallen lassen müssen.
Zum Glück war der Captain ein zielstrebiger Trinker. Er leerte sein Glas und winkte damit einem rothaarigen Kellner, dann stellte er es auf den Tisch. Es entging mir nicht, dass er damit die Nachricht beschwerte, die nach wie vor dort lag, und kaum, dass er den Tisch verlassen hatte, kam der Kellner geeilt, um das Glas und die Botschaft abzuräumen. Im Gehen verabschiedete sich der Captain noch von dem Mann im schwarzen Anzug, der ihm einen schönen Feierabend wünschte und ihm anbot, ihm eine Kutsche rufen zu lassen.
Ich zögerte. Zwar reizte es mich, mich weiter an die Fersen des Captains zu heften, aber vielleicht sollte ich mein Glück nicht überstrapazieren. Ich hielt Ausschau nach dem jungen Kellner und versuchte, mich in ihn hineinzuversetzen. Ich spürte die erregbare Gefühlswelt eines unsicheren jungen Mannes, der versuchte, einer Vielzahl von Pflichten nachzukommen, deren Bedeutsamkeit und Eintönigkeit ihm gleichermaßen vor Augen standen. Auch er war übermüdet und ziemlich aufgekratzt.
Ganz sicher trug er weder Kristalle noch einen Shila bei sich.
Meine Entscheidung war gefallen.
Ich drückte die restlichen Tischdecken einer anderen Bediensteten in die Hand und folgte dem Kellner nach draußen auf die Veranda.
Die Veranda bildete den Rücken einer großen Doppeltreppe, die mit einiger Phantasie wohl Erinnerungen an die Rialtobrücke wecken sollte. Zielstrebig huschte der Kellner die breite Treppenflucht hinab und verschwand unter der Terrasse. Dort befand sich eine Bar; ein Barkeeper war damit beschäftigt, das opulente Spirituosensortiment zu sortieren. Kellner und Barkeeper nickten einander zu und lösten sich ab. Ich nahm an, dass dabei auch die Nachricht des Captains den Besitzer wechselte. Der Barkeeper eilte davon, und der Rothaarige machte sich daran, seine Arbeit fortzusetzen, als habe er nie etwas anderes getan.
Ich entledigte mich Mrs. Lincolns grauer Haube und verbarg sie in einer Berberitze. Dann ließ ich den Schal von meinen Schultern gleiten, lockerte mein Haar, stellte mich an die Bar und strahlte den Burschen an.
Überrascht sah er mich an.
„Auch Ihnen einen schönen Morgen“, lachte ich, und er schloss seinen Mund und wurde rot.
„Wie kann ich Ihnen helfen, Ma ’ am?“
„Ich habe schrecklichen Durst.“
„Kann ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?“
„Wenn es in Ihrer Macht steht“, lächelte ich.
Eilig schenkte er mir etwas ein und stellte es vor mich hin. Es war Zitronenlimonade mit einem Minzblatt, und sie war nicht einmal schlecht.
„Danke“, sagte ich und lockerte meinen Ausschnitt. „Sie haben mir das Leben gerettet.“
Er wurde noch röter, wenn das überhaupt möglich war.
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