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Der Kristallpalast: Ein Steampunk-Roman (German Edition)

Der Kristallpalast: Ein Steampunk-Roman (German Edition)

Titel: Der Kristallpalast: Ein Steampunk-Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Plaschka , Matthias Mösch , Alexander Flory
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den Boden der hohen Rotunde, der, soweit das im Gewimmel der regennassen Füße zu erkennen war, aus einem hübschen Mosaik blauer und weißer Marmorfliesen bestand und gut und gerne dreißig Meter unter Straßenniveau lag. Die Wände wurden von allerhand Buden beherrscht, so dass ich mich von den widerstreitenden Gerüchen von Bier, Fett und Zuckerwaren umzingelt fand. In den Alkoven dazwischen verbargen sich allerlei absonderliche Gestalten. Ich sah einen billig kostümierten Wahrsager mit der blauen Krone Ägyptens auf dem Haupt und einer großen Kristallkugel auf dem Schoß und einen ausgemergelten indischen Schlangenbeschwörer, der nur einen Lendenschurz und einen Turban trug und auf einer knollenförmigen Flöte blies, vor ihm eine zahnlose Brillenschlange in ihrem Korb, während direkt daneben ein Kapuzineräffchen zur Melodie einer altersschwachen Drehorgel auf Zeitungsständern herumturnte. Die Musik und das Stimmengewirr waren nun lauter und durch den Hall des Bauwerks noch verstärkt, und erleichtert stellte ich fest, dass das Schrillen in meinem Ohr tatsächlich dahinter zurückgetreten war. Vor mir gähnten zwei große Tunnelschächte wie die Mündung einer großen doppelläufigen Flinte, und von neuer Hoffnung getrieben ließ ich mich hineintreiben.
    Schließlich aber hatte ich in dem besudelten Durcheinander eine Fährte aufgenommen, eine Witterung, denn etwas stimmte nicht, etwas in diesem blutigen Chaos war unbeschmutzt und ordentlich, und eine ganze Weile stand ich schwankend in meiner Matrosenkluft in de Boers Gehirn und gab mich dem Rauschen des Laudanums in meinem eigenen hin, bis ich erkannte, um was es sich handelte: Es war ein Portrait Victorias, der Königin des Kots, das lotrecht und farblos an der Wand über dem Schreibtisch hing und als einziges Objekt im Raum unangetastet geblieben war. Ich musste grinsen – ein guter Witz, de Boer! Helaas , er konnte nicht mehr darüber lachen. Ich durchwatete seinen zerebralen Morast, erklomm den Sekretär, der sich wie ein Atoll daraus erhob, nahm das Bild von der Wand und schleuderte es in den blutigen Sumpf, in dem es gurgelnd versank. Dahinter lag der erhoffte Tresor, der mit einem großen Chubbschloss gesichert war – eines jener angeblich unknackbaren Spielzeuge. Nun, ich hatte nichts Geringeres erwartet als ein unlösbares Problem und machte mich an die Arbeit.
    Der Tunnel war zweifelsohne für Kutschen gedacht gewesen, doch angesichts der, wie ich annahm, unterschätzten Problematik, Pferde und Wagen in die Tiefe unter dem Fluss zu befördern, hatte man nun eine pittoreske Einkaufsstraße unter ihm gestaltet, über die Fußgänger jedes Stands flanierten. Maler und Musiker und die ein oder andere Dame, die mein Instinkt für Freudenmädchen hielt, hatten sich ihre Ecken gesichert und boten im Licht heller Flammen ihre Dienste feil. Die Gesichter dieser Tunnelbewohner waren bleich und ausgezehrt, und ich fragte mich, ob sie je das Tageslicht sahen oder hier unten ihren Unterschlupf gefunden hatten. In regelmäßigen Abständen verbanden kleine Querbögen die beiden Haupttunnel, und in diesen Durchgängen hatten sich allerhand Buden und Stände breitgemacht und verkauften ihre Andenken, Spielsachen und Ramsch. Entzückt wanderte ich eine Weile durch diese unterirdische Feenwelt und genoss das Echo, das der Tunnel oder das Laudanum allen Geräuschen verliehen.
    Das Klicken kleiner Messingplättchen auf der anderen Seite der eisernen Tür war wie Musik in meinen Ohren, dennoch musste ich mich beeilen, denn natürlich wollte ich nicht, dass mich noch weitere Besucher auf diesem Schlachtfeld überraschten. Außerdem hatte ich da zum ersten Mal das Pfeifen in meinem Ohr wahrgenommen, und es begann mich zunehmend bei der Arbeit zu stören. Zärtlich stocherte ich in dem Schloss herum, und als das Pfeifen und Rauschen alles zu überlagern begann, mussten meine Finger auch die Aufgabe des Lauschens übernehmen, eine Aufgabe, die kein Einbrecher ohne meine übermenschlichen Fähigkeiten auszuführen imstande gewesen wäre, bis ich endlich das ersehnte Zittern spürte und wusste, dass der Tresor nun geöffnet war, noch ehe die Tür aufschwang.
    Ich presste den Seesack mit den nunmehr zwei verwandten Artefakten sorgsam an mich, um ihn vor Tunneldieben und Leieräffchen zu schützen, und steuerte auf das enorme Schnaufen und Dröhnen einen Orgel zu, die in einem wahrhaft kosmopolitischen Potpourri die Marseillaise, „Rule, Britannia!“, den

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