Der Kristallpalast: Ein Steampunk-Roman (German Edition)
beglückwünschte mich, meinen Verfolgern erneut eins ausgewischt zu haben. Ich fragte mich, mit wie vielen ich es zu tun hatte. Vor de Boers Büro hatte ich einen alten zahnlosen Krüppel gefunden, der mit einer Flasche Gin in seinem Schoß in der Gosse unter dem Schild „De Boer Import / Export“ saß und immer wieder die Hand hob und mit seinen ledrigen Lippen ein Ploppen von sich gab, als versuche er, etwas zu sagen. Also hatte ich ihn gepackt, geschüttelt und um ihm Gelegenheit zum Reden zu geben immer wieder die eine Frage gestellt: „Wer war das? Wer war hier?“ Er seinerseits hatte immer wieder geantwortet, wie ein irrer Statist, der im Theater auf seinen Einsatz hin aufspringt und mit dem Finger zeigt: „Der Batsman war’s! Der Batsman!“
Was für einen Reim sollte ich mir darauf machen? Meinte er einen Mann mit einem Knüppel? Oder mit einer Fledermaus? Hatte er etwas mit dem Massaker zu tun oder war er nur hinzugekommen und hatte den Laden auseinandergenommen? Ich erhielt keine Antwort außer dem nervenzerreibenden „Der Batsman!“ Mit gesenktem Kopf ging ich weiter, während das Laudanum meine Phantasie beflügelte und mir Bilder vor mein geistiges Auge zauberte, wie ich dank der elementaren Kraft des Pyroglycerins den Tunnel flutete, die Themse trockenlegte, ganz London davonspülte; und wie ich so grübelnd vor mich hin wanderte, bemerkte ich kaum, dass ich den anderen Ausgang des Tunnels erreicht hatte und mich in Rotherhithe befand.
Zweifelnd sah ich mich um. Diese Gegend war nicht ansprechender als die am Nordufer der Themse; im Gegenteil. Die reichgekleideten Herrschaften bestiegen ihre wartenden Droschken. Die ärmeren mischten sich unter die stumpfäugigen Arbeiter, die ihnen zum Schichtende aus den Fabriken entgegenströmten. Grimmige Schlote wuchsen vor mir in den Himmel, und trotz meines Verbands stachen die Odeurs von Schwefel und Salpeter in meiner Nase. Ich seufzte, wandte mich nach Osten und folgte eine Weile einer Straße, die man sinnigerweise Paradise Row getauft hatte. Ich merkte, dass ein zerzauster Hund mir folgte, doch ich beachtete ihn nicht.
Ein wenig war ich wohl auch gekränkt, dass die Heeren mein Genie verkannt und sich womöglich nun entschlossen hatten, es zu beseitigen. Finde er den Kaufmann, und finde er ihn zur rechten Zeit. Gut, ich war vielleicht etwas später als vorgesehen bei ihm aufgetaucht. Aber der verdammte Brite und meine gebrochene Nase hatten mich im Zeitplan zurückgeworfen. Hätte ich eventuell nicht sehen sollen, welchen Lohn de Boer für seine Dienste erhielt? Oder hatte er etwa die Heeren verraten? Sollte mir sein Schicksal eine Warnung sein, und man hatte erwartet, dass ich in der Lage war, das Artefakt auch eigenständig zu finden? Oder war die Lage außer Kontrolle geraten, und die Heeren hatten nicht den leisesten Schimmer, was hier in London tatsächlich vorging? Verdikkeme, de hele Reutemeteut , zum Teufel mit dem ganzen Theater, der Einzige, dem ich jetzt noch trauen konnte, war ich selbst – und ich hatte immer noch eine Aufgabe.
Erschöpft setzte ich mich auf einen kleinen Holzsteg, verscheuchte ein paar fette Ratten und nahm das Werkzeug aus de Boers Büro zur Hand. Ich hatte nun ein Taschenmesser mit mehreren Klingen und anderen nützlichen Instrumenten, einige feine Schraubenzieher und Zangen sowie etwas Kupferdraht. Eine Weile justierte ich die Waffen an meinem Arm. Die Arbeit beruhigte mich. Dann nahm ich erneut den kleinen Kristall in die Hand, der die Aufgabe gehabt hatte, das Wort der Heeren direkt in meinen Kopf zu tragen. Vielleicht hatten sie mich nur zu einer weiteren ihrer Audienzen bestellen wollen. Eventuell hatte das, was sie mir in den Kopf gepflanzt hatten, aber auch eine andere Aufgabe. Vielleicht wollte man sich nach vollbrachter Tat meiner entledigen. Konnte es sein, dass man mich wie ein Mastvieh jahrelang aufgepäppelt und behütet hatte, nur, um mich zur Schlachtbank zu führen? Ohne den Empfänger würde ich es nie erfahren. Doch ohne jemanden wie de Boer konnte ich ihn mir auch nicht wieder einsetzen; ich konnte die nötigen Verbindungen nicht selbst herstellen, indem ich mir mit einem Messer und einem Schraubenzieher im Ohr herumstocherte.
Ich nahm den Kristall und warf ihn in hohem Bogen in die Themse. Er verschwand in einem blutroten Strom, der sich aus einer Röhre ergoss und in einem spinnennetzartigen Muster aus schillernden Laugen erstarrte. Seegras und tote Fische hatten sich darin zu einer
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