Der Kugelfaenger
hastig um. Dann geht er in die Küche, findet eine Tube Flüssigkleber und streicht damit den Tapetenfetzen großzügig ein. Oben kann er Evelyn und Victoria aus dem Badezimmer kommen hören. Er geht eilends wieder in den Flur zurück und gerade als Evelyn die Treppe herunterkommt, klatscht er die Tapete an das kleine Stück nackter Wand, sodass der flüssige Klebstoff an den Seiten herausquillt.
Tom dreht sich betont langsam um und bleibt vor Staunen wie angewurzelt stehen. Ihm bietet sich ein völlig ungewohnter Anblick. Er kennt Evelyn sonst eigentlich nur im Schlabberlook, mit weiten Trainingshosen und ebenso weiten T-Shirts. Aber jetzt steht sie in einem schlichten, knielangen schwarzen Seidenkleid vor ihm (Label: BÄNNY B. , Schlussverkauf letztes Jahr, um 40% billiger. Noch nie getragen. Hübsch, aber es muss ja niemand wissen, dass sich das Kleid ganz schlecht verkauft hat.). Es ist hauteng geschnitten, unterstreicht ihre dünne Figur und hat einen Ausschnitt fast bis zum Bauchnabel, der mit grauen Pailletten besetzt ist, die im Licht geheimnisvoll glitzern. Dazu trägt sie Killer-High-Heels, mit denen sie sogar gute drei Zentimeter größer ist als Tom und die perfekt dazupassen (Die hat sie nach einem Fotoshooting für einen chinesischen Schuhhersteller mitgenommen, weil sie genau die richtige Größe hatten. (In Schuhgeschäften wird sie immer schief angesehen, wenn sie den linken Schuh in Größe neununddreißig haben will und den Rechten in Größe siebenunddreißig.)). Sie trägt zwar auch jetzt keinen Schmuck, aber dafür hat sie ihr dunkles Haar mit vielen kleinen Haarklammern hochgesteckt und eine Locke rahmt ihr Gesicht ein. Sie ist auch jetzt fast nicht geschminkt. Aber das hat sie definitiv auch nicht nötig. Sie sieht einfach absolut gut aus, wie er findet. Ihm bleibt die Spucke weg.
„Wow“, sagt er und kann seine Augen kaum abwenden.
„Und was ist mit mir?“ Victoria erscheint neben Evelyn und hakt sich bei ihr unter. Sie hat ebenfalls ein knielanges Kleid an und Toms Meinung nach unterscheidet es sich nicht wesentlich von dem, was Evelyn anhat. Außer die Farbe. Es ist grellrot. Damit würde sie sogar ein Blinder bei Nacht sehen.
„Hübsch“, sagt Tom wohlwollend. Er hat nicht die geringste Ahnung von Damenmode. Aber er findet, dass dies durchaus eine passende Bezeichnung ist.
„Hübsch“, wiederholt Victoria seine Bemerkung und lässt sich das Wort auf der Zunge zergehen, indem sie die Augen zusammenkneift und ihn eingehend mustert.
„Ja“, sagt Evelyn. „Tom hat für so was einen begrenzten Wortschatz. ‚Hübsch’ und ‚fantastisch’ sind die einzigen Wörter, die Männer auf Lager haben, wenn sie das Aussehen von Frauen beurteilen sollen.“
„Ja, das weiß ich“, sagt Tom.
„Ich weiß, dass du das weißt“, sagt sie zu ihm, „aber ich dachte, Vicky weiß es noch nicht.“
„Das ist mir wirklich neu“, meint Victoria. „Wenn Ben mich sieht, sagt er überhaupt nichts. Er sagt nicht einmal ‚fantastisch’ oder ‚hübsch’. Dann ist er so stumm wie ein Fisch.“
Ein Taxi hält vor der Hofeinfahrt. Evelyn holt ihr Abendtäschchen. Sie sieht das wieder festgeklebte Tapetestückchen nicht, von dem bereits der Kleber unten rausläuft und seine Spuren über die noch heile Tapete zieht.
Tom wartet, bis Victoria und Evelyn das Haus verlassen haben, dann schließt er die Haustür hinter sich. Evelyn setzt sich zu Vicky auf die Rückbank des Taxis und Tom nimmt neben Faris Platz. Es scheint so, als hätte dieser heute noch mehr Farbe und Haargel aufgelegt als sonst. Im wirklich allerletzten Moment fällt Evelyn noch ein, dass sie Jeans Geburtstagskuchen in der Gefriertruhe vergessen hat. Sie springt aus dem Wagen und eilt die Auffahrt wieder hinauf. Sie dachte, sie müsste Jean ein Geschenkt machen, zur Wiedergutmachung. Dabei ist ihr aber nichts Originelleres eingefallen als eine gekaufte, gefrorene Sahnetorte, von der sie nicht weiß, wie lange die schon eingefroren ist. Der wird sich freuen.
Elfdreiviertel Minuten später.
Evelyn hastet in allerhöchster Eile aus dem Haus und lässt sich neben Victoria auf den Rücksitz fallen. Faris braust mit quietschenden Reifen los.
Zweiundzwanzigeinhalb Minuten, neun Sekunden später.
Faris lässt sie vor dem Hotel aussteigen, in dem Jeans Geburtstagsparty steigen soll. Das stellt nicht weiter ein Problem dar, da sie sowieso die Letzten sind. Tom bedankt sich bei Faris und hält Evelyn die Tür auf, die er anschließend
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