Der Kugelfaenger
„Ja?“
„Guten Tag. Mein Name ist Rajesh Singh. Ich möchte zu Evelyn Williams.“
Tom kennt den Namen. Der hat unter dem Bericht gestanden, den Evelyn über ihn hat anfertigen lassen. Er macht die Tür noch weiter auf und wirft einen Blick auf den Mann, der vor ihm steht. Er hat keine Probleme, ihn als den jungen Kerl zu identifizieren, der mit einer Bierflasche in der Hand einen Arm um Evelyn gelegt hatte, zugekifft bis unter die Haarwurzeln.
Rajesh Singh ist eher von kleiner und schmächtiger Statur. Er sieht ziemlich brav aus, nicht das Geringste an ihm lässt auf die Fotos von damals schließen. Er wurde vor dreißig Jahren in Indien geboren, ist aber im Alter von zwei Jahren mit seinen Eltern, einem Bruder und fünf Schwestern aus einem verrückten Impuls heraus nach Pakistan übergesiedelt. Nachdem sein Vater, ein Spezialist für Bombenentschärfungen bei der Pakistanischen Armee, völlig überraschend starb (er hat eine Landmine übersehen), ist der damals vierzehnjährige Rajesh mit seiner Mutter und drei seiner Schwestern nach England ausgewandert. Der Tod seines Vaters war zwar für die ganze Familie ein Schock, aber somit kam Rajesh zumindest um die Hochzeit mit einem zwei Jahre jüngeren indischen Mädchen herum. Er hat Evelyn mit sechzehn in der Schule kennen gelernt. Heute arbeitet er als freier Journalist für verschiedene Zeitungen und besorgt sich seine Informationen nicht immer auf legalem Weg.
„Rajesh. Das ist aber eine Überraschung. Was machst du hier?“ Evelyn steht jetzt neben Tom.
„Das ist für dich.“ Rajesh hält ihr einen braunen Umschlag hin.
„Was ist das?“ Sie sieht das Ding misstrauisch an. Es ist verknittert und hat Flecken.
„Ein Umschlag“, sagt Rajesh und sieht sich nervös um.
Evelyn starrt ihn an. „Ist der von dir?“
Rajesh schüttelt schnell den Kopf. „Nein, von Henry. Deinem Onkel.“
Evelyn sieht ihn ungläubig an. „Das ist ein Witz.“
Rajesh tritt von einem Fuß auf den anderen und verdreht die Augen. „Nein, Evelyn, das ist kein Witz. Dieser Umschlag gehörte deinem Onkel.“ Er stopft ihn Evelyn ungeduldig in die Hände. Dann wischt er seine Finger an seiner sauberen Hose mit Bügelfalten ab, so als könnte der Umschlag von irgendwelchen tödlichen Viren befallen sein. „Henry hat ihn mir gegeben, kurz bevor er … kurz vor seinem Unfall. Er sagte, ich solle ihn für ihn aufbewahren, bis er ihn wieder braucht.“ Rajesh lacht kurz auf, was eine Spur zu hastig klingt. „Kannst du dir das vorstellen, Evelyn? Ich würde mir selbst niemals irgendwas zum Aufbewahren geben, aber Henry hat’s gemacht … Na ja, jedenfalls hat Henry nicht mehr nach dem braunen Umschlag gefragt und so habe ich ihn tatsächlich vergessen. Bis ich ihn heute Morgen unter meiner Schreibtischunterlage gefunden habe. Ich habe den ganzen Tag überlegt, was ich damit tun soll, ob ich vielleicht reinschauen soll. Aber dann wollte ich dieses Ding nur noch loswerden. Ich finde es unheimlich, von einem Toten etwas im Besitz zu haben.“ Rajesh wirkt jetzt nicht mehr so gehetzt wie vorher, sondern nur noch nervös. „Ich dachte, es ist besser, wenn ich ihn dir gebe. Du kannst damit machen was du willst. Ich weiß nicht was drin ist.“
Evelyn starrt zuerst den Umschlag an, dann Rajesh. „Er hat dir nicht gesagt, was es mit dem Ding auf sich hat?“
„Nein“, sagt Rajesh und ist schon wieder auf dem Weg die Treppe hinunter. „Tschüss“, meint er kurz und stapft über den Rasen zur Gartentür. Dann ist er verschwunden.
Evelyn macht die Haustür zu und setzt sich in der Küche an den Esstisch. Tom setzt sich ihr gegenüber. Der großformatige Briefumschlag liegt zwischen ihnen auf dem Tisch.
„Dann wollen wir mal sehen“, murmelt Evelyn, krallt sich den Umschlag und reißt ihn auf. Dann dreht sie ihn auf den Kopf und schüttelt ihn leicht. Heraus fallen lediglich ein kleiner Schlüssel und eine Visitenkarte einer Bank in London, mit Anschrift, Ansprechpartnern und Öffnungszeiten.
„Das ist ein Bankschließfachschlüssel“, sagt Tom. Er betrachtet die Visitenkarte. Dann dreht er sie um. Auf der Rückseite wurden in extrem schiefer Schrift einige Zahlen notiert. Die Schließfachnummer.
Tom dreht die Karte wieder um und sieht Evelyn an, die mit gekreuzten Armen am Tisch sitzt und den Schlüssel anstarrt. „Wir sollten uns beeilen. Die Bank schließt um sechs.“
***
Zehn Minuten vor sechs betreten sie gemeinsam die Filiale, die auf der Karte vermerkt ist. Sie
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