Der Kult - Cordy, M: Kult - The Colour of Blood
angewidert den Kopf. Selbst die Polizei war klug genug, nicht einfach unangekündigt ins Shanghai zu spazieren. Der Trottel kam wohl nicht von hier, zu dämlich, um es besser zu wissen.
Old Town, Portlands Glasscherbenviertel, erfreute sich einer berühmt-berüchtigten Vergangenheit. Es war noch nicht lange her, da fanden sich Männer, die sich gerade noch in einer der zahlreichen Bars des Viertels einen Drink genehmigt hatten, plötzlich auf einem Schiff mitten im Ozean wieder, wo sie wie Sklaven für ihr Essen schuften mussten. Man hatte sie mit Drogen vollgepumpt und durch die berüchtigten Shanghai-Tunnel, die fast unter dem gesamten Viertel verliefen, zum Hafen geschleift. Junge Frauen erwartete ein noch grausameres Schicksal: Sie wurden wie weiße Sklavinnen als Prostituierte ans andere Ende der Welt verkauft.
Auch jetzt noch zählte Old Town zu den gefährlicheren Gegenden der Stadt, launischer als das benachbarte schicke Pearl District, und das war Vince Vega gerade recht. Im Laufe der Jahre hatte er sich hochgearbeitet und betrachtete Old Town mit all seiner schäbigen Pracht mittlerweile als sein persönliches Revier. Er kontrollierte fast alle Huren in den Straßen und billigen Absteigen, und auch die meisten Dealer des Viertels zahlten an ihn.
Während Vega sein Bier schlürfte, beobachtete er mit seinen Wieselaugen, wie der Fremde an die Theke trat und die Tafel mit dem breiten Angebot lokaler Biere studierte. Der Mann trug ein weißes kragenloses Hemd, aber ansonsten war alles schwarz an ihm: die Hose, die lange Jacke, die Stiefel, der breitkrempige Hut, der sein Gesicht verdeckte, selbst die große Tasche in seiner rechten Hand. Die blasse Haut und die bleichen Lippen verstärkten seine monochrome Erscheinung noch. Der Fremde war groß und muskulös, aber Größe allein hatte den drahtigen Vega noch nie eingeschüchtert. Seiner Erfahrung nach waren große Männer langsam und tendierten dazu, sich selbst zu überschätzen. Und dieser Kerl hier sah aus wie so ’ne Amish-Nullnummer, die noch ’nen Käfer vor’m Bus retten würde. Auf der Theke lagen einige Filzstifte. Der Mann nahm sie auf und ordnete sie wie von einem inneren Drang getrieben nach einer bestimmten Farbfolge, bevor er sie wieder in ihren Karton steckte.
Was für ein Arschloch.
Vega lauschte dem tiefen Grollen in der Stimme des Mannes, als dieser sich ein Bier bestellte, und sah, dass er den Kopf wie ein Hund zur Seite neigte, um auf den Bildschirm über der Bar zu schauen. Der Kerl wirkte wie hypnotisiert, als hätte er noch nie einen Fernseher gesehen.
» Scheiß Spasti«, murmelte Vega in sein Bier. Plötzlich richtete der Fremde sich auf und trat überrascht einen Schritt zurück. Im Fernsehen lief eine Nachrichtensendung über diese mysteriöse Heldin. Ob der Spasti sie kannte? Zumindest starrte er gebannt auf den Bildschirm, offensichtlich fasziniert davon, wie diese Frau allein und nur mit einer Axt bewaffnet in den finsteren Keller runtergestiegen war und elf Mädchen vor der Russenmafia gerettet hatte. Vega blickte stirnrunzelnd auf den Fernseher. Wenn das seine Ware gewesen wäre, hätte er der Schlampe weit mehr verpasst als bloß so’n scheiß Gedächtnisschwund. Nichts und niemand kamen ihm bei seinen Geschäften in die Quere.
Er widmete seine Aufmerksamkeit erneut dem Fremden und bemerkte, dass der wieder an seinem Bier schlürfte und in seine Richtung sah. Der dämliche Hut verdeckte immer noch den größten Teil seines Gesichts, aber Vega spürte, dass der Typ ihn abcheckte. Der Fremde blickte immer wieder abwechselnd auf ihn und auf den Bildschirm, als gäbe es da irgendeinen Zusammenhang. Dann neigte er den Kopf, so dass Vega zum ersten Mal in seine blassen Augen blickte. Der Scheißkerl starrte ihn tatsächlich an. Er schien überrascht, so als würde er ihn kennen. Was völlig unmöglich war, denn Vega vergaß niemals ein Gesicht, und diesen Bauerntrampel hatte er garantiert noch nie gesehen.
Er griff nach der Knarre in seinem Hosenbund und wollte gerade aufstehen, um diesem Arschloch zu zeigen, wer hier das Sagen hatte, aber irgendetwas in dessen kaltem, starrem Blick hielt ihn zurück. Normalerweise konnte Vega in den Augen seines Gegners lesen und dessen Schwachstellen erkennen, um genau dort anzugreifen. Aber im Blick des Fremden sah er nichts, nicht mal einen Schimmer von Menschlichkeit. Es war, als schaute man in die Augen eines Tieres – oder eines Toten. Vince Vega versuchte nicht einmal
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