Der Kult - Cordy, M: Kult - The Colour of Blood
er mit dem Gedanken, ihr von den Selbstmorden zu erzählen und sie zu fragen, ob sie bei ihrer Ankunft in Tranquil Waters oder vorher zufällig irgendetwas darüber gehört hatte. Wenn Sie etwas gehört hatte, auch unbewusst, hatte ihre Synästhesie ihr vielleicht erlaubt, das Geschehene zu rekonstruieren. Doch vorher wollte er noch eine Sache überprüfen. » Anfangs dachte ich tatsächlich, dass es sich dabei um verdrängte Erinnerungen handeln könnte«, sagte er und zeigte auf die Patientenakte vor ihm. » Doch dann habe ich die Berichte über Ihre Halluzinationen im Oregon State Hospital gelesen, und die waren so unterschiedlich und so reich an Details, ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass das alles Erinnerungen sind. Ganz sicher nicht Ihre Erinnerungen. Das Seltsame daran …« Er hielt inne. Die verrückte Idee, die sich in seinem Kopf breitgemacht hatte, war einfach zu bizarr, als dass man sie aussprechen konnte. Er griff in seine Aktentasche und schaute noch einmal in seine Unterlagen. Man konnte ganz eindeutig ein Muster erkennen, und ihre Synästhesie machte die Erkenntnis – wenn es denn eine war – nur noch wahrscheinlicher. Die zwangsläufige Schlussfolgerung widersetzte sich jeder Logik, aber der Gedanke war einfach zu faszinierend, um ihn wieder zu verwerfen. Zumal seine Theorie sehr leicht bestätigt – oder, wie er erwartete, widerlegt – werden konnte. » Ich muss ein paar Telefonate führen und einige Dinge organisieren, dann würde ich gerne etwas versuchen.«
» Was?«
» Ich möchte ein kleines Experiment machen.« Er stand auf und ging zur Tür. » Ich bin in ein paar Minuten zurück. Dann werde ich Ihnen alles erklären.«
12
Während Jane Doe ungeduldig darauf wartete, dass Fox zurückkehrte, erwachte in Old Town ein zweites Opfer, um seinem Schicksal entgegenzusehen. Irgendwann im Laufe der letzten Nacht war Josh Kovacs in einer der dunklen Seitengassen der Burnside Street auf einem Haufen alter Kartons und Zeitungen bewusstlos zusammengesackt, abgefüllt mit billigem Bourbon und allen Beruhigungspillen, die er in die Finger bekommen hatte. Als er eingeschlafen war, hatte Kovacs alte Turnschuhe, eine abgewetzte Lederjacke und eine schmutzige Jogginghose getragen. Doch als er jetzt mit einem Brummschädel und einer Kehle wie Schmiergelpapier wieder aufwachte, waren seine Lippen mit Klebeband versiegelt und alles war anders.
Er öffnete die Augen und sah, dass er nicht länger auf der Straße lag, sondern in einer verlassenen Lagerhalle. Die Fenster waren verhangen und an der Decke baumelte eine nackte Glühbirne, so dass er keine Ahnung hatte, ob es Tag war oder Nacht. Als ihm langsam dämmerte, in was für einer Lage er sich befand, stieg Panik in seinem noch immer benebelten Schädel auf. Er versuchte aufzustehen, aber man hatte ihm die Hand- und Fußgelenke gefesselt. Da bemerkte er, dass seine Kleider in einem ordentlichen Stapel neben ihm lagen. Er sah an sich hinab. Man hatte ihm ein blaues Abendkleid …
Was zur Hölle …
Er hörte Schritte, dann türmten sich im Licht der Glühbirne die Umrisse eines Mannes vor ihm auf. Der Mann beugte sich zu ihm herab, und Kovacs roch einen leicht süßlichen Gestank. Als er in die blassen, starren Augen seines Kidnappers schaute, fand er darin weder Mitleid noch eine Spur von Menschlichkeit. Sie betrachteten ihn so gefühllos wie ein Stück Fleisch, das man gleich verschlingen, oder einen Käfer, den man zertreten würde. Der Mann hatte sich ein Handy mit Klebeband an der Stirn befestigt; das Objektiv der Videokamera starrte auf Kovacs hinab wie ein drittes Auge. Plötzlich vollkommen nüchtern und starr vor Angst, verspürte er das dringende Bedürfnis zu pinkeln, doch ein letztes Fünkchen Stolz hielt ihn davon ab, einfach seine Blase zu entleeren. Zwei starke Arme griffen nach ihm und drapierten seinen Körper und seine Arme und Beine in einer ganz bestimmten Position, dann zog der Fremde ein großes Messer hervor, kniete sich über sein Opfer und begann, mit der freien Hand auf dessen Brust herumzudrücken und seine Rippen abzutasten wie ein Metzger, der nach der besten Stelle für den ersten Schnitt suchte. Er sah Kovacs in die Augen. » Wie alt bist du jetzt?«, fragte er mit leiser, grollender Stimme. » Fünfundfünfzig? Sechzig? Du siehst so alt und verbraucht aus, dass ich dich fast nicht erkannt hätte.« Er kratzte mit dem Messer über Kovacs’ ungepflegten Bart und zog an seinen schütter werdenden grauen Haaren.
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