Der Kult - Cordy, M: Kult - The Colour of Blood
eine flüchtige und undefinierbare Eigenschaft. Einer von Nathan Fox’ Kollegen in Stanford hatte einmal die unmögliche Aufgabe in Angriff genommen und versucht, es im Rahmen einer Dissertation zu definieren. Er hatte Unmengen von Filmstars, Politikern und erfolgreichen Geschäftsleuten interviewt, aber nichts weiter herausgefunden, als dass alle attraktiv, anziehend und charmant waren. Kaum eine Handvoll von ihnen hatte wahres Charisma besessen und die anderen waren so enttäuschend, dass er seine Dissertation abgebrochen hatte. » Grundsätzlich ist Charisma ebenso selten wie wahre Genialität«, lautete seine Schlussfolgerung. » Entweder man hat es, oder man hat es nicht. Und wenn man nachfragen muss, dann hat man’s nicht.«
Obwohl er sicherlich über Fünfzig war und sein Gesicht zu markant, um dem konventionellen Schönheitsideal zu entsprechen, besaß der Fremde eindeutig Charisma, was auch immer diese flüchtige Eigenschaft war. Er trug eine schwarze Hose, ein weißes kragenloses Hemd und ein langes blaues Leinenjackett, war etwa ein Meter achtzig groß – und somit ein wenig kleiner als Fox – und schlank, mit einer leichten Bräune, durchdringenden blaugrünen Augen und auffallenden Wangenknochen.
Sein schulterlanges silbergraues Haar war dicht und glänzend wie das Fell eines Tieres. Als er sein strahlendes Lächeln auf Fullelove richtete und ihr die Hand reichte, wäre die gefürchtete Professorin beinahe errötet. Und auch Fox spürte diese Macht, als der Fremde ihm die Hand gab und ihn mit seinem durchdringenden Blick ansah. » Ich freue mich Sie kennenzulernen, Dr. Fox.« Er sprach leise und mit dem tiefen Timbre eines Mannes, der es gewohnt war, gehört zu werden – und zu befehlen –, ohne die Stimme erheben zu müssen.
» Wir sorgen uns in erster Linie um Jane Does Wohlergehen«, begann Professor Fullelove, nachdem sie sich im Besprechungszimmer niedergelassen hatten. » Sie kann sich an nichts und niemanden aus ihrer Vergangenheit erinnern, und wir müssen sichergehen, dass Sie tatsächlich der sind, für den Sie sich ausgeben.«
» Ich verstehe«, erwiderte der Mann sanft.
» Wie ist Ihr Name?«, fragte Fox.
» Regan Delaney.«
» Können Sie sich ausweisen?«
Fox sah, wie sich die Kiefermuskeln des Mannes spannten. Er war es eindeutig nicht gewohnt, dass man an seinen Worten zweifelte. » Das ist eine komplizierte Geschichte. Ich lebe jetzt seit einigen Jahren außerhalb der Gesellschaft, und ich bezweifle, dass die Behörden irgendwelche aktuellen Unterlagen über mich haben.« Sein Lächeln war so entwaffnend, dass Fox sich dabei ertappte, wie er ebenfalls lächelte. » Die Familie, in die ich hineingeboren wurde, hat Pferde gezüchtet, unten in Nordkalifornien, aber das war vor vielen Jahren, bevor ich die Gemeinschaft hier in Oregon gegründet habe. Wir leben draußen auf dem Land, weit weg von der Verderbtheit der Städte. Wir entschuldigen uns nicht dafür, dass wir den Einmischungen der modernen Welt aus dem Weg gehen – oder der Aufmerksamkeit der Regierung. Wir sind Selbstversorger, wir bleiben für uns und tun niemandem etwas. Alles, was wir uns wünschen, ist, dass der Rest der Welt uns mit derselben Rücksichtnahme begegnet.«
» Was ist das für eine Gemeinschaft?«, fragte Fullelove.
Der Mann griff nach einem Amulett, das ihm an einer silbernen Kette um den Hals hing. Es sah aus, als wäre es aus einem einzigen Stück Stein gefertigt, und hatte die Form eines Anch-Zeichens. Im Inneren der Schlaufe war ein großer Amethyst eingefasst.
» Wir sind eine religiöse Gemeinschaft.«
Fox starrte auf das Amulett und sah wieder einen muskelbepackten Unterarm und das Tattoo einer Schlange vor sich, die sich um ein ähnliches seltsam geformtes Kreuz wand. Der Kragen seines Hemds wurde ihm plötzlich zu eng, und er spürte, wie sich Schweißtropfen auf seiner Stirn bildeten. » Ein Kult?«, fragte er.
Delaney lächelte. » Das ist ein schrecklich emotional beladener Begriff, Dr. Fox. Sie wissen doch, was man sagt: Wenn Sie dran glauben, ist es eine Religion; wenn nicht, ist es eine Sekte; und wenn Sie es fürchten oder hassen, dann ist es ein Kult. Wir betrachten uns eher als eine Familie.«
Das beruhigte Fox nicht im Geringsten. Charles Manson hatte seinen Kult als Familie bezeichnet, und das hatte zu keinem guten Ende geführt. Er dachte an seine Eltern und seine Schwester, und an die beiden Mitglieder eines Kultes, die sie umgebracht hatten, und an die Patienten, die
Weitere Kostenlose Bücher