Der Kult - Cordy, M: Kult - The Colour of Blood
du allein, Zara. Danke für deine Hilfe, aber ich denke, ich werde jetzt ein wenig allein spazieren gehen.« Ohne auf eine Antwort zu warten, verschwand sie in Richtung der hohen Bäume auf der Anhöhe hinter der Siedlung. Ein wenig abseits der anderen Gebäude stand ein großer Schuppen, von dem ein süßlicher, ihr seltsam bekannter Geruch ausging. Eine Spur aus Sägemehl und Blut führte zur Tür, und durch eines der Fenster sah sie Tierkadaver an Haken von der Decke hängen. Das hier war offensichtlich das Schlachthaus; die vielen Fliegen, die um sie herumsurrten, ließen gelbe und rote Flecken vor ihren Augen flimmern. Sie hielt sich eine Hand vor den Mund und lief eilig weiter, bis sie zu einem Schild kam, das den Zutritt zum Wald untersagte. Sie wollte es schon ignorieren, doch dann sah sie, dass Zara ihr gefolgt war, und lief zurück in Richtung Brücke. Es würde ihr guttun, das Dorf für eine Weile zu verlassen. Aus dem Augenwinkel sah sie, dass Zara immer näher kam, und ging schneller. Doch bevor sie auch nur einen Fuß auf die Brücke setzen konnte, trat einer der Männer aus dem Wachhäuschen und versperrte ihr den Weg.
» Es tut mir leid, aber der Seher wünscht, dass du bis Esbat im Dorf bleibst.«
» Wieso?«
» Zu deiner eigenen Sicherheit.«
» Meiner Sicherheit? Ich versteh nicht …«
» Komm«, sagte Zara atemlos, ergriff ihren Arm und führte sie zurück. » Die Entscheidungen des Sehers werden nicht hinterfragt.«
» Und ob ich ihn fragen werde«, entgegnete Sorcha. Sie befreite ihren Arm aus Zaras Griff und ging zielstrebig zu seinem Haus hinüber. » Ich werde ihn fragen, was zum Teufel hier vor sich geht.«
» Aber er ist der Seher.«
» Und er ist mein Vater.«
» Er ist unser aller Vater.«
Sorcha erschauerte, als sie daran dachte, was Zara und die beiden anderen Frauen am Morgen mit Delaney getrieben hatten. » Zara, bitte geh zum Mittagessen und lass mich eine Weile allein.«
» Aber ich soll dir den ganzen Tag über Gesellschaft leisten.«
» Willst du, dass ich dem Seher sage, du wärst mir gegenüber ungefällig gewesen?«
Eine Mischung aus Angst und Wut blitzte in Zaras Augen auf, und Sorcha spürte eine grausame Befriedigung. Allmählich glaubte sie, dass es womöglich gar kein Geheimnis gab, warum sie das Dorf verlassen hatte. Vielleicht hatte sie einfach die Nase voll gehabt von all diesen Regeln und dem bedingungslosen Gehorsam ihrem Vater gegenüber. Und vielleicht war das auch der Grund, warum Eve sie gewarnt hatte, niemandem zu trauen. Als sie das Haus betrat, sah sie sich noch einmal um. Zara stand immer noch an der Brücke. Delaney war nicht da. Sie überlegte, ob sie in ihrem Zimmer auf ihn warten sollte, aber dafür war sie zu unruhig. Hinter den Schlafzimmern fand sie einen langen Gang mit einer einzelnen Tür an seinem Ende. Sie probierte den Türgriff. Die Tür war verschlossen und konnte nur mit einem elektronischen Zahlencode geöffnet werden. Sorcha befand sich also in dem Gang, der die Privaträume ihres Vaters mit dem Turm verband.
Als sie durch die Haupteingangstür wieder ins Freie trat, bestätigte sich ihre Vermutung, und sie ging hinüber zum Turm. Aus der Nähe wirkten die fensterlosen weißen Steinmauern wie Felsklippen. Mit seinem riesigen Auge erinnerte das Gebäude an einen überdimensionierten Leuchtturm oder ein Silo, aber es gab keinen Kran und keinen Eingang, abgesehen von den beiden Türen unten im Erdgeschoss. Das Observatorium, wie Zara es genannt hatte, schien Sorcha seltsam vertraut, und sie fragte sich, welche Funktion es wohl tatsächlich hatte.
Sie ging um den Turm herum und fand die zweite Tür, ebenfalls mit einem elektronischen Zahlencode gesichert. Eingebettet in das dunkle Holz befand sich ein weiteres Mosaik. Im Gegensatz zu dem Auge an der Turmspitze war dieses hier klein und rund und aus grob gehauenen Stücken von Putz, Amethyst, Ziegeln und Beton gefertigt. Fasziniert strich sie mit den Fingern über die einzelnen Elemente. Doch im selben Moment zog sie ihre Hand wieder zurück, als hätten nadelscharfe Splitter ihr in die Finger gestochen. Seit sie im Dorf angekommen war, hatte sie nichts Ungewöhnliches wahrgenommen, doch die Berührung dieser Ansammlung von Bruchstücken hatte sich angefühlt, als wäre sie mit den Scherben unzähliger Todesechos konfrontiert worden. Noch während sie überlegte, woher diese Mosaikstücke kommen mochten, wuchs ihre Überzeugung, dass der Turm der Schlüssel war, um das Tor zu ihren
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