Der Kulturinfarkt
Die folgenden Kapitel bringen Vorschläge, formulieren Möglichkeiten. Sie beschreiben keine konsistente Therapie, keine kohärente Utopie eines Kulturstaates, sondern nehmen die Schlüsselthemen der Kritik auf und versuchen, sie in Paradigmen einer künftigen Kulturpolitik umzuformulieren. Diese Paradigmen sind nicht ohne innere Widersprüche. Was unter welchen Umständen gelten soll, ist erst im Prozess politischer Aushandlung entscheidbar. Kompakte Utopien fürchten wir sehr. Geraten sie nämlich in die Hände der Politik, werden daraus alsbald freundliche Zwangssysteme, in denen eine wissende Minderheit für eine zu formende Mehrheit spricht. Also geht es um Mechanismen, welche den Widerspruch in sich tragen – jenen Widerspruch, der sie entwickelt und zukunftsfähig macht. Dieser Widerspruch ist höchst demokratisch: Nur unter der Bedingung einer offenen Gesellschaft kann er sich entfalten, kann er die Gesellschaft beeinflussen und kommt das Prinzip zum Tragen, dass Demokratie die einzige Gesellschaftsform ist, in der wechselnde Gruppen an die Macht gelangen und, einmal dort, den Ausgleich mit den anderen suchen und suchen müssen.
Ob diese oder jene Institution überlebt, dieses oder jenes Prinzip in die Zukunft gelangt, ist keine Frage, die uns hier beschäftigen kann. Es geht uns nicht um ein Sparprogramm. Genauso wenig wie um ein Ausbauprogramm. Wer sucht, wird viele Argumente für Kürzungen in diesem Text finden. Wer Gründe für den Ausbau von Kulturförderung sucht, wird sie genauso finden. Wonach wir suchen, sind jene Mechanismen, die uns vor dem Kulturinfarkt bewahren. Die uns davon befreien, dass so vieles sich politisch verankert hat und nicht sterben darf, obwohl weder Ressourcen vorhanden sind noch eine Notwendigkeit ausgewiesen ist, dass es bleibt. Die uns davor bewahren, an der Last der Vergangenheit zu ersticken. Die an die Erneuerung, um die es in den Siebzigern ging, anknüpfen.
Klar ist, dass es keine politische Instanz gibt, die das, was wir im Folgenden skizzieren, umsetzen könnte. Kulturpolitik spielt auf zu vielen Ebenen mit zu vielen Akteuren, als dass ein politischer Masterplan denkbar wäre. Da liegen die Verhältnisse in Bildung und Gesundheit ganz anders, selbst im Verkehr. Die Visionen, die wir formulieren, können jedoch als Ermutigung taugen für Entscheidungsträger, das andere zu wagen statt immer das eine zu tun: ins Loblied des Mehr einzustimmen.
Die Nation ist, in einem Satz gesagt, an einen vergleichbaren Punkt gelangt wie am Ende der sechziger Jahre. Dass ein einziges Milieu und eine einzige Attitüde das kulturelle Leben beherrschen und die folgende Generation in andere Felder abgedrängt wird oder ausweichen muss. Im Interesse der Kunst, die nicht beliebige Aufgaben erfüllen kann, im Interesse eines freien Geistes muss es also darum gehen, die Blockade, in der wir uns befinden, zu überwinden, und Kunst in jener Funktion zu stärken, die sie einmalig macht. Darum, an dem Raum weiterzubauen, in dem jede und jeder über Gott und die Welt reden kann, so unbekümmert wie möglich, und in dem jede und jeder die eigenen Emotionen gespiegelt wiederfindet. Dabei macht uns die Kunst mit dem Unbekannten vertraut, indem sie das Vertraute, die Kultur, ständig als Rückhalt inszeniert. Die Kultur umgekehrt, dieser gigantische Fundus des Gelebten, ist gezähmte Kunst. Wie wir sie verstehen, ist Kulturpolitik das Verfahren, diese Spannung zu halten, gar zu verstärken.
Kunst entsteht nicht durch Kulturpolitik. Doch Kulturpolitik kann Entstehen von Kunst erleichtern. Verstünde sie dies als ihre Aufgabe, wäre der Unterschied zur gegenwärtigen Politik groß. Aus der Zukunft zurückgeschaut, liegt dieser Unterschied darin, dass das Erlebnis nicht mehr gerichtet wird, dass der erzieherische Anspruch wegfällt, dass Kulturpolitik sich keine moralischen Urteile mehr anmaßt. Sie enthält kein teleologisches Element mehr, ist weder auf einen idealen Endzustand ausgerichtet noch ist sie Advokatin einer bestimmten Ästhetik. Sie ist vielmehr ein dynamisches Regelsystem. Um die Dynamik zu erhalten, baut sie auf Widersprüche, statt sie auszublenden oder überwinden zu wollen. Sie will nicht die Zähmung optimieren, sondern die Kollision. Heute ist Kulturpolitik ein anonymer Auftrag an viele zur normativen Anpassung an wenige. Morgen könnte Kulturpolitik eine einzige große Möglichkeit für alle sein.
Der Mensch als Kulturkonsument
Mündigkeit versus Social Engineering
Das erste
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