Der Kulturinfarkt
Rückgriff auf das Wahre, Schöne und Gute der Weimarer Klassik die nicht stattfindende Auseinandersetzung mit der Barbarei des Nationalsozialismus kaschieren und helfen, die Wunden zu lecken. In den siebziger Jahren reklamierte Kulturpolitik, sie sei in der Lage, eine falsch gelaufene Stadtentwicklung zu korrigieren. In der sozialliberalen Ära wollte sie gesellschaftliche Reformen vorantreiben (»Kulturpolitik ist Gesellschaftspolitik«). Am Ausgang des Jahrhunderts war sie gut dafür, Schwierigkeiten des deutschen Einigungsprozesses abzumildern (Deutschland als alles überwölbende »Kulturnation« beziehungsweise »Kulturstaat« im Einigungsvertrag). Nun soll sie Migranten integrieren, nachdem es Jahrzehnte an einer Integrationspolitik gefehlt hatte (»Deutschland ist kein Einwanderungsland«). Und in einer jüngsten Wendung ist sie dafür gut, das letzte Wachstumspotenzial im Wirtschaftsleben zu heben (»Kultur- und Kreativwirtschaft«). Dabei geht es immer wieder um dasselbe. Die Allzuständigkeit der Kultur ist die Folie, vor der Kulturpolitik ihren Einfluss aufrechterhalten und das geförderte Establishment weitere Beweise dafür liefern kann, dass alles, was ist, »unverzichtbar« ist. Angesichts globaler Bedrohungen können die an das Kultursystem Angeschlossenen gar nichts Besseres tun, als immer darauf hinzuweisen, dass sie überall schon Antworten haben, wo sonst noch Fragen gestellt werden. Natürlich stimmt, dass Kunst sich jedem Thema zuwenden darf. Aber das bedeutet noch lange nicht, dass der Kulturbetrieb die großen Leiden unserer Gesellschaften heilen kann. Er ist nicht selten auch Ursache dieser Leiden. Er wollte Arzt werden und ist doch selbst Patient.
Perspektiven: Paradigmen einer künftigen Kulturpolitik
Wie weiter? Über drei Kapitel hinweg haben wir den Perspektivenmangel einer Kulturpolitik markiert, die das Gesetz einer gut gemeinten Expansion lebt, ohne die Nachfrage im Auge zu behalten, und so die Kunstsphäre von der Sphäre des Wirtschaftens abgekoppelt hat. Dabei kritisieren wir weder Personen noch Projekte noch Institutionen als Einzelne; wir benutzen sie höchstens zur Illustration. Aus der Innensicht ist das meiste, was produziert und vermittelt wird, durchaus sinnvoll gedacht, ist das Engagement der Beteiligten beträchtlich, passen die Ergebnisse in den heutigen Bedeutungsrahmen. Jeder Künstler vergilt Förderung durch Einsatz, jede Institution weiß, wozu sie eine Subventionserhöhung nötig hat, jeder Politiker sieht den eigenen Nutzen, wenn er die Laudatio auf den Preisträger hält oder mit der Schere zur Eröffnung schreitet. An den paar schamlosen Gagen stören wir uns nicht. Je näher man herangeht, umso mehr verschwindet Politik aus dem Blickfeld.
Fest steht auch, dass Kunst sich keiner politischen Agenda mehr anschließen muss, um im Austausch für geistige Werte mit Subventionen genährt zu werden. Dass auf die Überhöhung von Kunst und Kultur in den letzten 40 Jahren eine dialektische Gegenbewegung in Richtung Kulturskepsis folgt, muss als normal gelten. Und das historisch begründete Wissen, dass es der Kunst selbst (so wir sie denn als Subjekt betrachten) nie gut oder schlecht geht, sondern dass sie sich bloß wandelt, schafft Raum für unerhörte Gedanken. Wer den Wandel akzeptiert, entschlüsselt den Kampf um staatliche Gelder und andere Privilegien im kulturellen Sektor wie jeden Verteilungskampf, wie jede Lobbyarbeit in den Bereichen Arbeit, Umwelt, Bildung, Verkehr, Gesundheit: als sehr vertraut.
Wie keine andere Politik ist Kulturpolitik retrospektiv organisiert, im Sinne von Erhaltung und Besitzstandwahrung. Die Innovation, die in anderen Politikfeldern eine zentrale Rolle spielt, bleibt hier eine rein ästhetische, sie verstärkt die Wirklichkeitsferne. Und wie keine andere Politik ist Kulturpolitik durch die Mikroperspektive geprägt. Also durch lokale Bedürfnisse und individuelle Begehren, verankert in der kunstimmanenten Behauptung, dass alles einmalig, mithin nicht vergleichbar sei. So erklärt sich, warum der Patient von der Couch nicht hochkommt. Übergeordnete Konzepte, statistische Evidenzen und Wirkungsanalysen haben keine Chance gegen das Kartell des Glaubens an die heilsame Kraft von mehr Kunst, womit Künstler unversehens zu besseren Stadtplanern, intelligenteren Forschern, geschickteren Pädagogen und idealen Konfliktlösern gemacht werden.
Damit der Patient Kulturpolitik die Couch verlassen kann, benötigt er handfeste Unterstützung.
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