Der Kulturinfarkt
Paradigma heißt: Der Mensch ist mündig. Er ist in eine Kultur geboren. Und seine Kultivierung erfolgt über Familie und Schule, natürlich in sehr unterschiedlichen, oft fremden Ausprägungen. Die Rede ist hier nicht nur von den Einwanderern. Kunst ist in jedem Fall ein Angebot jenseits der kulturellen Zugehörigkeit, und wer sich mit ihr beschäftigen will, den kostet es eine Anstrengung, zu Recht. Die Bürgerinnen und Bürger dieses Staates sind keine reparaturbedürftigen Individuen, deren Schäden Kulturpolitik beheben müsste. Obwohl die aktuelle Kulturpolitik genau daraus ihre Legitimation bezieht: Sie fördert, »was es schwer hat«, und sie meint natürlich, die Bürger müssten lernen, das Schwere als das Verträgliche zu verdauen. Doch dieses Prinzip des Social Engineerings, der Umgestaltung von Moral und Bewusstsein des Kollektivs, gehört unseres Erachtens einer vergangenen Epoche an. Kein Zufall, dass Chinas Kulturpolitik sich stark an solchen Grundsätzen orientiert. Die Inhalte sind ganz wohlmeinend gesteuert, immer positiv, wie an den Konfuzius-Instituten. Solches sei nur in einer zensurgestützten Gesellschaft wie China möglich? Im Gegenteil. Es ist in China vermutlich schwieriger umzusetzen als in den westlichen Gesellschaften, weil in China Widerstandsgeist lebt, der bei uns längst vereinnahmt ist. Wer das Spektrum geförderter und gepriesener Kunst hierzulande sieht, stößt auf einen modischen Mainstream, der aus all den verordneten Qualitätsansprüchen resultiert.
Die Mündigkeit der Bürger anzuerkennen bedeutet, ihre Wahlfreiheit zu respektieren. Es ist ihnen überlassen, ob sie sich ins kulturelle Feld vorwagen oder nicht, sie selbst bestimmen ihre Zugangswege. Ihre Mündigkeit anzuerkennen bedeutet, »Kultur für alle« als quantitativen Anspruch fallen zu lassen. Keine weiteren Institutionen, keine weiteren Preissenkungen, keinen Ausbau mehr. Schlimmer noch: Umbau. Gelten mag weiter »Kultur für alle« in dem Sinne, dass Kulturpolitik alle schöpferischen Kräfte gleichermaßen anerkennt. Alle Bewohnerinnen und Bewohner unserer Länder kennen das Angebot, die Quellen, die Zugänge. Jetzt liegt es an ihnen. Und wer es sich wirklich nicht leisten kann – diese Fälle von Daseinsvorsorge gehören in die Sozialpolitik. Jean Baudrillard beschrieb die Mündigkeit des Bürgers unter demokratischen Bedingungen in seinem Reisebericht Amerika: »Democracy demands that all of its Citizen begin the race even. Egalitarianism insists that they all finish even.« 74
74 Baudrillard, Jean: Amerika, Berlin 2004, S. 130. (Zitat engl. im Original; übersetzt v. d. A.: »Demokratie verlangt, dass all ihre Bürger das Rennen mit gleichen Chancen antreten. Egalitarismus besteht darauf, dass sie es alle gleich beenden.«)
Rationalität: Rechnende Bürger zahlen
Das zweite Paradigma lautet: Der Bürger rechnet. Es ist die praktische Interpretation des ersten und bedeutet, sich von der Zweckfreiheit der Kunst zu verabschieden. Der Schweizer Gewerkschaftsführer und spätere Kritiker jeder Reglementierungs- und Bevormundungspolitik Beat Kappeler ist in seiner Autobiografie Wie die Schweizer Wirtschaft tickt zu einem bemerkenswerten Schluss gekommen: Politik und die zuarbeitende Zivilgesellschaft hätten verlernt, mit einem Bürger zu rechnen, der selbst rechnet. Der Hang, Verhalten und Beziehungen zu normieren, schiebe den Bürger immer mehr in die Rolle des Unterstützungsbedürftigen, der selbst nicht wisse, wie übel es ihm ergehe und welche Rechte ihm zustünden. Daraus sei die aktuelle Arbeits- und Sozialpolitik hervorgegangen, die den Bürger als Opfer anonymer Kräfte sehe, dem unbedingt zu helfen sei, auch gegen seinen Willen. Doch der Bürger rechne, also nutze er die Sozialsysteme zu seinen Gunsten aus. Er hole sich, was er holen kann, da es ihm als Kompensation für Nachteile angeboten werde, auch wenn er sie womöglich gar nicht als Nachteile wahrnehme. Ressourcen weist man nicht zurück. 75
75 Kappeler, Beat: »Wie die Schweizer Wirtschaft tickt«, in: NZZ Libro, 2011.
Würde Kulturpolitik davon ausgehen, dass Bürgerinnen und Bürger sich rational verhalten, wüssten wir längst mehr über die Motivationen zum Kunstgenuss (und zum Kunstmachen). Kulturpolitik gab aber vor, sich um die politische Emanzipation des Einzelnen zu kümmern, und maßte sich gleichzeitig die Rolle des Vormunds an. Individuelles Glück ist nicht normierbar. Deshalb ist es trügerisch, dafür universelle Modelle
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