Der Kulturinfarkt
eigenen Kraft des Künstlers und jener des Produzenten. Verabschieden wir uns von der Meinung, Förderung müsse eine kulturelle Norm durchsetzen, eine bestimmte Ästhetik, die bloß Ideologie kaschiert, ein bestimmtes Modell, einen bestimmten Grad an Konzeptionalität, und möglichst auch noch eine korrekte politische Haltung fordern und fördern. Befreien wir uns von der Pädagogik, verpackt in einen Qualitätsbegriff. Gewöhnen wir uns an die Widersprüchlichkeit der künstlerischen Positionen, lassen wir Tradition, Traditionalismus, Mainstream, Experiment, Laienkunst und Kunst Zugewanderter gleichermaßen Platz. Wir benötigen keinen öffentlichen Maßstab. Qualität herzustellen liegt im ureigensten Interesse der Produzierenden selbst. Vielfältigste Möglichkeiten zum Produzieren zu schaffen, das Individuum vom ästhetischen Imperativ der bürgerlichen Aufbruchszeit zu befreien, ihm ganz demokratisch die ästhetische Arbeit am eigenen Glück zu ermöglichen, wie immer dieses beschaffen ist, das ist die Essenz künftiger Kulturpolitik.
Die Verschiedenheit der partikulären Interessen und Wertordnungen wäre das Ziel, nicht das Hindernis. Wenn es gelingt, den halben Kultursektor zu entstaatlichen, also uns von der Hälfte der Einrichtungen frei zu machen, dann reden wir damit keinem Sparprogramm das Wort. Wir plädieren für eine Lichtung, die Platz schafft für eine Zukunft, in der die Kunst wieder eine Rolle spielt. Eine Rolle, die fern ist von der aktuellen Anbiederung der Kulturszene an die Politik. Eine Rolle, die sich Künstler und Rezipient teilen.
Verständigung über Ziele durch Güterklassifikation
Um mit den Begründungsdefiziten und den Tendenzen zur Expansion von Meritorik umzugehen, helfen Gesetze, die meritorische Strukturen kodifizieren, nicht. Wie wollte man ein Theatergesetz formulieren, ohne auf Konstruktionen zu verfallen, die den »Theaterzwang« von Karl Valentin durch die Hintertür einführen? Über welchen gesetzgeberischen Leisten sollte man die Museen Mitteleuropas schlagen, und in welcher Kulturdiktatur würde man dann landen?
Die politische Gesellschaft müsste sich vielmehr darüber verständigen, welchen Umfang und welche Ausrichtung meritorische Förderung haben soll. Dazu sollte sich Kulturpolitik nicht als moralische Instanz gerieren, sondern diskutieren, unter welchen Zielen was gefördert werden soll. Das klingt leichter, als es ist – denn es müssen ästhetische, bildungsbezogene, geschichtliche, soziale, wirtschaftliche, raumplanerische, demografische Parameter und Schnittstellen einbezogen werden. Wenn das passiert ist, wäre zu überlegen, welche betrieblichen Strukturen sinnvoll sind, um die Förderziele zu erreichen. Und wenn das getan ist, kann man die Frage klären, wie viel das kosten wird und ob dieses Geld der öffentlichen Hände für diese meritorischen Zwecke zur Verfügung stehen soll. Wenn diese Rechnung politisch zu hoch erscheint, müssen Ziele modifiziert und neu gefasst werden. Man muss es sich leisten, die gewünschten Strukturen ausreichend auszustatten, denn sonst können sie die erwarteten Ziele nicht erfüllen.
Über die meritorische Förderung muss nicht jährlich entschieden werden. Der Gesetzesrahmen öffentlicher Haushalte gibt gegenwärtig allenfalls minimalen Raum für mehrjährige Förderentscheidungen. Das aber könnte man ändern. Was wäre gegen mehrjährig beschließbare Freiwilligkeitsleistungen zu sagen? Unter dieser Voraussetzung könnte selbst im Bereich der meritorischen Güter eine Art Wettbewerb stattfinden – nutzerorientierter Wettbewerb. Denn würden Theater tatsächlich unter der Voraussetzung eines in seiner Struktur fest auf zum Beispiel fünf Jahre verabredeten Spielplans (x Opernpremieren, x Schauspielpremieren, davon einige aus dem Kanon der Klassiker, x Premieren im Tanztheater, x Symphoniekonzerte, x Jugend- und Kindertheaterstücke, x Spieltage insgesamt, Auslastungsziel 95 Prozent) mit einem verlässlichen Betrag pro Sitzplatz in Deutschland gefördert, dann könnte das höchst unterschiedliche Kulturmanagement dieser Theater für die Nutzer einen Unterschied machen. Eine Gefahr, dass zusätzliche Einkünfte aus einer wirtschaftlich erfolgreichen Geschäftsführung im Haushaltsverfahren wieder eingezogen werden, dürfte für den Vertragszeitraum nicht bestehen.
Ob das Geld, das derzeit für Kultur aus öffentlichen Haushalten ausgegeben wird, genügt, um die formulierten Ziele zu erreichen, kann man erst wissen,
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