Der Kunstreiter
»glaubst du, ich redete ihm zu, wenn ich sie nicht teilen wollte? – Ich werde ihn begleiten.«
»Du? – auf dem Turmseil?« lachte kopfschüttelnd ihr Vater. »Du bist nicht gescheit!«
»Das geht nicht, Georgine,« sagte Bertrand. »Wenn ich mich selber auch sicher genug da draußen weiß, um nicht das Schicksal des langen Franz zu befürchten, möchte ich doch nicht die Angst für dich mit hinausnehmen. Außerdem weißt du selber, daß es viel schwerer ist, zu zweien, als allein das Seil zu begehen.«
»Bah! wir sind so oft zu zweien darauf gewesen.«
»Allerdings, doch nicht in solcher Höhe.«
»Und welcher Unterschied ist zwischen Haus- und Turmhöhe? Ein Sturz wäre von der einen genau so verderblich wie von der andern.«
»Gewiß! aber du selber hast ein Seil in solcher Höhe noch nie betreten; du weißt nicht, wie es dich erregen würde – doch wir streiten da um einen ganz nutzlosen Gegenstand. Bis jetzt hat es mir der Magistrat verboten, und ob mein direkt an den Fürsten gerichtetes Gesuch einen andern Erfolg haben wird, weiß ich noch nicht.«
»Ein Adjutant des Fürsten war heute morgen hier,« sagte Georgine, »ich bezweifle aber, ob in der Angelegenheit. Jedenfalls wollte er dich sprechen.«
»Ein Adjutant des Fürsten? rief Bertrand rasch – »und weshalb hast du mich da nicht rufen lassen?«
»Er hatte keine Zeit. Dort liegt seine Karte. Er ersucht dich, ihn morgen früh zwischen acht und zehn Uhr zu besuchen.«
»Sonderbar!« sagte Bertrand und schritt langsam zu dem Tisch, auf dem die Karte lag. Georgine hatte sich dem Fenster zugewandt und sah hinaus, und der Alte nähte den letzten abgerissenen großen weißen und ballähnlichen Knopf an seine Jacke.
»Nun?« sagte Georgine endlich, als Bertrand noch immer schwieg, indem sie sich nach ihm umdrehte. »Kennst du den Herrn?« Bertrand antwortete nicht. Er hielt die Karte zwischen den Fingern; seine Augen hafteten darauf, aber er sprach kein Wort. Georgine schritt hinüber zu ihm und sah über seine Schulter auf die Karte nieder; erst als er noch immer nicht sprach, schaute sie zu ihm auf und erschrak über die plötzliche Blässe seiner Züge.
»Was fehlt dir, Georg?« rief sie. »Du siehst kreideweiß aus. Was ist mit dem Fremden?«
»Kreideweiß?« lächelte Bertrand, aber ihrem scharfen Blick entging nicht, welche Gewalt er sich dabei antun mußte, wenn er auch sonst seine ganze Fassung und Ruhe behielt. – »Du träumst. Aber wer brachte diese Karte?«
»Der, dessen Namen sie trägt.«
»Wolf von Geyerstein,« flüsterte Bertrand halblaut vor sich hin, aber es war, als ob er die Worte mehr zu sich selber spräche, als sie für ein anderes Ohr bestimmte.
»Du kennst ihn?« fragte die Frau, und ihre Augen hingen erwartend an denen des Gatten.
»Ich kenne den Namen,« sagte dieser ruhig, »kannte wenigstenseinen, der ihn trug – aber das ist lange Jahre her und war auch an einem andern Orte – weit von hier.« »Und der hieß Wolf von Geyerstein?«
»Nein – sein Vorname ist mir jetzt entfallen; aber der – lebt auch nicht mehr.«
»Ein Verwandter denn – ein Bruder vielleicht?«
»Möglich,« sagte Bertrand gleichgültig, »aber wir werden ja sehen. Also morgen?«
»Morgen früh zwischen Acht und Zehn. – Du glaubst also nicht, daß es auf deine Eingabe Bezug haben könnte?«
»Und warum nicht? – was sonst hätte ich mit einem Adjutanten des Fürsten zu tun und zu verkehren? – Aber mach' dich fertig; die Zeit vergeht, und es muß drei Uhr vorbei sein. Die Leute drängten sich schon zur dritten Galerie, als ich vorüberkam.«
»Heute gibt's eine gute Einnahme,« sagte der Alte, der seinen Plunder aus den verschiedenen Zimmerecken zusammensuchte, »wo zum Teufel ist jetzt meine Peitsche? Ich habe sie gestern abend dort auf den Stuhl gelegt.«
Georgine verließ das Zimmer, um noch einiges für ihre Garderobe zusammenzusuchen, und Georg stand noch immer und starrte still und schweigend auf die Karte nieder, bis er sich endlich, als er die Frau zurückkommen hörte, davon losriß und seinen Hut ergriff. Es war in der Tat Zeit für den Zirkus, und alle anderen Gedanken nahm der Augenblick vollkommen in Anspruch.
4.
Über den Landgrafenplatz wälzte sich eine jubelnde Volksmasse herüber, als Graf Geyerstein gerade das Haus verlassen wollte. Ein Kamel, mit einem Affen auf dem Rücken, wurde dort vorbeigeführt, und von allen Seiten strömte das Meßvolk hinzu, den seltenen Anblick zu genießen. Eine Equipage,
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