Der kuriose Fall des Spring Heeled Jack: Roman (German Edition)
zwölf war, wohnte sie von montags bis freitags bei ihrem Arbeitgeber.
Es war, wie jede Woche aufs Neue ins Zuchthaus gesteckt zu werden.
Die erste Gefängnisregel lautete, dass sie nur sprechen durfte, wenn man sie etwas fragte. Die zweite, dass sie sich jedes Mal mit dem Gesicht zur Wand aufstellen musste, wenn ihr Herr, die Herrin oder ihr Sohn im Flur an ihr vorübergingen. Traf sie den Sohn alleine, strich er ihr im Vorbeilaufen immer mit der Hand über den Hintern, was sie gar nicht mochte. Die dritte Regel bestand darin, dass sie alles, was sie beschädigte, bezahlen musste. Diese Regel hasste sie am meisten, denn sie war ein tolpatschiges Mädchen, und wie das Jahr bisher gelaufen war, könnte sie sich glücklich schätzen, wenn sie am Ende überhaupt noch Geld herausbekam.
Die Wochenenden! Bei Gott, wie sie die Wochenenden liebte! Jeden Freitagabend verließ sie das Haus ihres Herren auf dem Lavender Hill, lief die Cut Throat Lane entlang, bis sie zum Clapham Common kam, und ging um das Gelände herum bis zur Raspberry Lane, in der ihre Eltern wohnten und wo sie zwei glückliche Tage zu Hause erwarteten.
Diesen Samstag war ihr Bruder fünf Jahre alt geworden. Ihre Mutter hatte aus den Stoffstücken, die sie sich während der letztenMonate vom Mund abgespart hatte, eine kleine Soldatenuniform genäht, und ihr Vater hatte aus einem langen Stück Treibholz ein Gewehr geschnitzt.
Als sie am Montagfrüh auf dem Weg zurück zu ihrem Arbeitsplatz durch die Cut Throat Lane lief, dachte Mary an den Ausdruck der Glückseligkeit auf dem Gesicht ihres Bruders, als er die Geschenke entdeckt hatte. Wie begeistert er auf und ab marschiert war! Und wie eifrig er auf den Befehl des Vaters hin Haltung angenommen hatte, mit stolzgeschwellter Brust und durchgedrückten Schultern.
»Nun, Gefreiter Stevens«, hatte ihr Vater mit allerstrengster Stimme gesagt. »Wie ich sehe, ist Ihre Uniform nicht zugeknöpft. Ihre Majestät, die Königin Viktoria, mag den Thron noch nicht lange innehaben, doch das bedeutet nicht, dass es unter ihrer Herrschaft für die tapferen Männer der Armee keine Regeln und Vorschriften gibt! Ich will Ihnen sagen, junger Herr, glänzend polierte Knöpfe sind ein Muss für jeden Soldaten! Was haben Sie zu Ihrer Verteidigung vorzubringen?«
Ihr Bruder warf der Mutter einen unsicheren Blick zu.
»Ich … ich … ich …«, stammelte er.
Dann war Mary vorgetreten und hatte verkündet: »Ich glaube, da kann ich behilflich sein. Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Gefreiter Stevens!«
Und dann hatte sie ihm sechs glänzende Messingknöpfe geschenkt.
Lachend lief sie den Weg entlang, vor Augen noch immer das strahlende Gesicht ihres Bruders. Viel schöner, darüber nachzudenken, als über die bevorstehende Woche.
»Mary Stevens!«
Die raue Stimme ertönte nicht weit von ihr hinter einem Zaun. Sie blieb stehen.
»Ja?«
»Bist du Mary Stevens?«
»Das bin ich, Sir. Und wer sind Sie?«
Etwas flog über den Zaun, über ihren Kopf hinweg und landete auf der Straße.
Sie schrie erschrocken auf und wirbelte herum. Jemand packte sie an der Kehle.
Ein entsetzliches Gesicht starrte sie an, und Marys Knie gaben nach. Sie sackte auf die Pflastersteine. Die Kreatur beugte sich über sie, ihr Griff blieb unnachgiebig.
»Deine Brust, Mädchen! Trägst du ein Mal darauf?«
Sie versuchte zu schreien, aber aus ihrer Kehle drang nur ein Krächzen.
»Hör auf, dich zu wehren, du dummes Stück! Antworte mir!«
»Wa-was?« Sie schluckte schwer.
Die Angst, die sie durchflutete, verlieh ihr plötzlich Kraft. Mit Armen und Beinen trat und schlug sie um sich, ihr Mund öffnete sich zu einem Schrei.
Bevor auch nur der erste Ton ihre Lippen verließ, packte sie die Kreatur am Kragen ihres Mantels und zerrte sie hoch. Der Mantel riss auf.
Endlich löste sich der Schrei.
»Sei still! Sei doch endlich still!«, rief ihr Angreifer.
Aber sie konnte nicht aufhören.
»Scheiße!«, fluchte die große, hagere Gestalt, griff nach ihrem freigelegten Kleid und zog gewaltsam daran. Vom Hals bis zur Taille riss der Stoff auf, zusammen mit dem Unterkleid.
Sie kämpfte wild gegen ihn an, warf sich nach rechts und links, schlug und trat und brüllte wie von Sinnen.
Die Kreatur, die alle Mühe hatte, sie festzuhalten, ließ plötzlich los, und sie prallte mit solcher Wucht gegen den Zaun, dass dieser sich nach hinten durchbog, mit einem Krachen zusammenbrach und sie mit ihm zu Boden fiel.
»Hey!«, ertönte ein
Weitere Kostenlose Bücher