Der kuriose Fall des Spring Heeled Jack: Roman (German Edition)
an seiner rechten Hand fehlten drei Finger.
»Wo kommst’n her, Mister?«, sagte er mit überraschend sanfter Stimme.
»Mile End«, murmelte Burton.
»Haste Glück gehabt, die Hunde ham dich nich’ erwischt.«
»Das waren keine Hunde. Und sie ham den kleinen Jungen mitgenommen«, keuchte der königliche Agent, als sein Blick auf die Leiche des Begleiters des Kindes fiel.
»Machen se immer. Warum gehste nich’ nach Hause? Wir kümmern uns um die Sauerei hier.«
»Drum kümmern? Was heißt’n das?«
»Das heißt, wir schaffen die Leichen weg. Beileid, wenn der Kerl dein Junge war.«
»Was macht ihr mit den Leichen?«
»Das Übliche.«
Burton wusste, was das hieß: Was von Monty übrig war, würde man in die Themse werfen.
Er hielt sich die Stirn.
Wie viele Tote hatte er jetzt schon auf dem Gewissen? Erst Lieutenant Stroyan in Berbera, dann Speke, der mittlerweile sicher gestorben sein musste, und nun auch noch Montague Penniforth.
Ihm war schlecht. So hatte er sich diese Angelegenheit nicht vorgestellt. Aber was sollte er tun? Er konnte nicht die Polizei rufen – nicht einmal einen Bestatter, der kommen und Montys Überreste einsammeln würde. Ganz gleich, wie sehr er sich wünschte, der große Kutscher würde ein anständiges Begräbnis erhalten – Gott wusste, er würde bereitwillig dafür zahlen –, es gab keine Möglichkeit, die Leiche aus dem East End herauszubekommen, ohne Aufsehen zu erregen. Und wenn seine Maskerade fiel, würde er wahrscheinlich selbst im Fluss landen.
Er ließ die Hand fallen und ballte sie zur Faust, die Nägel gruben sich tief in seine Handfläche.
In der anderen Hand trafen die Fingernägel auf etwas Anderes. Die Nachricht von Findlay!
Nein, Moment, nicht von Findlay – also von wem?
Er wartete bis Tief, Weinerlich und Holzbein abgelenkt waren, dann entfaltete er verstohlen das Papier und las hastig die darauf geschriebenen Worte:
Mes yeux discernent mieux les choses que la puplart ici. Je vois à travers votre masque. Rencontrez moi vers la Thames, au bout de Mews Street dans moins d’une heure.
Burton, der dem Französischen natürlich mächtig war, übersetzte: ›Meine Augen sehen mehr, als die meisten hier. Ich durchschaue Ihre Maske. Treffen Sie mich noch zu dieser Stunde am Ende der Mews Street an der Themse.‹
Er steckte die Notiz in die Tasche, rappelte sich auf und trat an Holzbeins Seite.
»Hey, Kumpel, ich muss rüber zur Mews Street«, brummte er mit leiser Stimme. »Wo muss ich’n da lang?«
»Was willst’n da?«, fragte Holzbein und musterte ihn mit glasigen Augen.
»Geht dich nix an, was ich da will!«, erwiderte Burton gereizt.
»Schon gut, Kumpel, kein Grund, sich aufzuregen. Die Gasse da drüben, geh’ runter bis zum Fluss, dann nach rechts und an der Uferseite lang, bis de ans verrammelte Leihhaus kommst. An der Ecke liegt die Mews Street. Kommste alleine klar? Weißt, dass se dir die Waffe geklaut ham, ja?«
»Aye, die dreckigen Bastarde. Mit geht’s gut, Kumpel. Mein Bruder wartet auf mich, und ich bin jetz’ schon fünf Stunden zu spät dran!«
»Bist inner Kneipe hängengeblieben, wie?«
»Aye.«
»Tut mir leid wegen deinem Jungen, Alter. Scheiß Art, abzutreten.«
Burton zwang sich zu einem ungerührten East-Ender Schulterzucken, wandte sich ab und humpelte zum Eingang der Gasse hinüber, auf die Holzbein gezeigt hatte. Je weiter er humpelte, desto größer wurde die Distanz zwischen ihm und Penniforth, immer dünner wurde das Band zwischen ihnen, bis es fast zerriss. Aber wie Stroyans Tod und Spekes Selbstmord würde er dieses Ziehen im Herzen für den Rest seines Lebens verspüren, das wusste er. Und er erkannte, dass der Auftrag, den er von Palmerston erhalten – und der ihn zum Agent des Königs gemacht hatte –, einen schrecklichen Preis einfordern würde.
Die Gasse war schmal, fast vollkommen dunkel und lief leichtschräg hinab zum Fluss. Burton strich mit den Fingern an der rechten Wand entlang und ließ sich von ihr führen. Immer wieder stolperte über am Boden liegende Gestalten. Einige fluchten, wenn sein Fuß sie traf, andere stöhnten. Die meisten blieben still.
Erbrochenes und Alkohol hatten einen sauren Geschmack in seinem Mund hinterlassen. Der giftige Nebel brannte ihm in den Augen und in der Nase. Er wollte nach Hause und diese verhängnisvolle Expedition vergessen. Er wollte alle seine verhängnisvollen Expeditionen vergessen.
›Verdammt noch mal, Burton! Setz’ dich zur Ruhe! Werde Konsul
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